Das inoffizielle Flüchtlingslager Grand-Synthe ist aufgelöst. Unser Autor war über drei Monate lang da. Ein Erlebnisbericht von den letzten Tagen.
Zustände, die es in Europa nicht geben dürfte. Im sogenannte Dschungel in Grande-Synthe lebten bis zu 3000 Menschen unter widrigsten Bedingungen. (Bild: Simon Krieger)
Das Feuer ist unter Kontrolle. Der beissende Geruch von verbranntem Plastik bleibt in der Luft. Das Zelt war nicht mehr bewohnt. Es stand aber gefährlich nahe bei der Frauenkleider-Ausgabe – es ist eines der vielen, von Freiwilligen aufgebauten und betriebenen Distributionszelten im inoffiziellen Flüchtlingslager in Grande-Synthe in Nordfrankreich. Wie auch die Küche, die wir mit dem Projekt Rastplatz Anfang Dezember in Betrieb genommen haben, bleibt dieses Angebot bis zum letzen Moment erhalten.
Heute ist der zweite Tag des Umzuges ins neue Camp. Viele der verbliebenen Geflüchteten sind frustriert. Die Stimmung bezüglich des neuen Camps, das «Ärzte ohne Grenzen» (MSF) zusammen mit dem Bürgermeister von Grande-Synthe errichtet haben, war lange kritisch. Die Geflüchteten – meist Kurden aus dem Nordirak – hatten befürchtet, dass sie mit Fingerabdrücken registriert werden. Niemand hier will in Frankreich bleiben. Sie wollen alle nach England. Sie wollten kein neues Camp.
Ich habe mich davor gehütet, das neue Camp anzupreisen, um das Vertrauen, dass ich über mehr als drei Monate hinweg aufgebaut habe, nicht zu missbrauchen. Zu vieles ist unklar und unser Einfluss darauf ist zu gering, als dass wir Versprechungen machen könnten. Wir nahmen aber bei vielen Besuchen Leute mit, damit sie sich ein eigenes Bild machen konnten.
Die Holzunterkünfte im neuen Camp bieten Platz für vier Personen und werden mit Paraffinheizungen warm gehalten. (Bild: Simon Krieger)
Die Meisten, die von der Besichtigung zurückkehrten, waren überzeugt. Die Vorteile des Umzugs überwogen die verbleibenden Unsicherheiten – sicher auch, weil es kaum Alternativen gibt: bis zur Räumung auszuharren ist so aussichtslos wie die Chancen in einem kleinen, neuen «Dschungel» – wie Grande-Synthes genannt wurde – ungewiss sind. In den letzen Tagen vor dem Umzug schlug die Stimmung ins Positive, fast schon ins Euphorische. Bis der Umzug begann.
Jetzt steht der Dschungel in Flammen. Fortdauernd werden Zelte angezündet. Die meist jungen Männer, die sich noch hier aufhalten sind frustriert. Viele von ihnen wurden zurückgeschickt. Es hätte keinen Platz mehr für sie, da den Familien Vorrang gelassen wurde. Innerhalb von einem Tag war das Vertrauen in MSF, in das neue Camp und in alle, die eine Besserung versprochen haben, verloren.
Dabei hat MSF, die als einzige grosse NGO aktiv waren, gute Arbeit geleistet: Neben medizinischer Hilfe stellen sie sanitäre Anlagen zur Verfügung.
Rund 10% der Geflüchteten sind Kinder und Minderjährige. Für sie sind die Lebensbedingungen besonders gefährlich. (Bild: Simon Krieger)
Ich presse einen Eimer in den weichen Boden und lasse die breiige Masse einfliessen. Die schwelenden Überreste des Zeltes erlöschen zischend unter der Ladung Schlamm. Davon hat es genug. Feuerlöscher hingegen, haben wir fast keine mehr. Jetzt sind es wieder zwei weniger. Am ersten Tag des Umzuges erhielten wir noch Unterstützung der lokalen Feuerwehr. Ohne ihre Hilfe, konzentrieren wir uns nur noch darauf, das Ausbreiten der Feuer zu verhindern. Meistens mit Eimern und Schlamm.
Schlamm ist das wohl bezeichnendste Merkmal dieses Ortes. Er ist überall. Er macht den Dschungel so hässlich. Die einst grüne Wiese wurde in den letzten Monaten durch das schnell anwachsende Camp in einen braunen Sumpf verwandelt, in dem man sich ohne Gummistiefel kaum bewegen kann.
Über die Zeit hinweg konnten wir Wege aus Schotter und Paletten durch den Morast ziehen und die wichtigsten Stellen des Dschungels miteinander verbinden.
Beim Bau von Wegen und Distributionszelten, wie auch beim Betrieb der Küche konnten wir auf die Unterstützung der Geflüchteten im Dschungel zählen. (Bild: Simon Krieger)
Solche Aufgaben benötigten viele Hände und genügend Baumaterial. Letzteres wurde problematisch, nachdem ein Einfuhrstopp für Baumaterial verhängt wurde. Eine Begründung wurde nie gegeben.
Während das Flüchtlingslager im benachbarten Calais schrittweise geräumt wurde, wollten die Behörden wohl verhindern, dass Grande-Synthe weiter wächst. Einige der dort Vertriebenen, vor allem die Kurden, kamen aber trotzdem. So mussten wir Baumaterial und die dringend benötigten Zelte an der Eingangskontrolle vorbei schmuggeln – entweder durch den Wald oder im Kleinlastwagen, versteckt unter dem Brennholz. Seit einigen Tagen gilt das Verbot für fast alles ausser für Lebensmittel.
Die Polizei am Eingang des Dschungels kontrolliert Fahrzeuge auf nicht zugelassene Güter. Was rein darf und was nicht, variiert stark von Schicht zu Schicht. (Bild: Joel Sames)
Während sich unsere Arbeit allmählich erschwerte, war auch unter den Leuten im Camp eine zunehmende Entmutigung spürbar.
Doch in Anbetracht der Umstände ist es einer. Vielleicht ist dieser Erfolg nur dem milden Winter zu verdanken. Ich denke an die wenigen, wirklich kalten Tage. Wie ich unter einem Berg Wolldecken mit eingeheiztem Ofen in der Küche einzuschlafen versuchte, im Wissen, dass nur einige, vor allem die Familien, Öfen in ihren Zelten haben. Ich denke daran wie wir nervös wurden, wenn eine Brennholzlieferungen ausfiel.
Die glühenden Überreste der verbrannten Unterkünfte sind die einzigen Lichtquellen im fast leeren Dschungel in dieser Nacht. (Bild: Simon Krieger)
Ich nehme nochmal einen Schluck und gehe weiter. Statt zurück zur Küche schlendere ich durch den verlassenen Dschungel und geniesse die Stille. So leer habe ich den Ort noch nie erlebt. Selbst mitten in der Nacht wurde ich oft noch um irgendwas gefragt oder zum Tee eingeladen. Für sich alleine war man hier nie.
Ich werde den Dschungel vermissen. Ein Gedanke, den ich mir beim ersten Anblick dieser Hölle nicht hätte vorstellen können. Der Dschungel mit seinen Langzeitfreiwilligen, den Geflüchteten und den hunderten Helfern, die kamen und gingen. Der Dschungel mit seinen Charakteren, von denen mir viele ans Herz gewachsen sind. Der Dschungel mit seinen eigenen Gesetzen und Umgangsformen, die meine eigenen wurden.
Was hier geschah, ist eine Schande. Eine Schande für Frankreich und für Europa.
Umso mehr bin ich froh, hierhin gekommen und geblieben zu sein – die Möglichkeit gehabt zu haben, den Betroffenen ein anderes Gesicht von Europa zeigen zu können.
Nach einer Weile mache mich auf den Weg zurück in die Küche, um zum letzten Mal in dem feucht-kalten Zelt zu schlafen. Morgen werden auch die Letzten Platz im neuen Camp finden – bis genügend Holzunterkünfte gebaut sind, in temporären Zelten.
Der Überlebenskampf wird vorbei sein und die Langeweile wird beginnen. Die unzähligen, fehlgeschlagenen Versuche, das lange ungewisse Warten, schlagen aufs Gemüt. Sie wollen keine Lösung in Frankreich. Sie wollen nach England.