Unser Autor hat einen Monat in Kroatien für Flüchtlinge gekocht. Er erlebte Glück und Trauer, «Gefühle, die ich hier ohnehin oft kaum auseinander halten kann». Ein Text von der EU-Aussengrenze. Mitten aus Tausenden von Flüchtlingen.
Sie kommt auf mich zu: Eine Frau mit Kopftuch – auf ihrem Arm trägt sie ein Kind. Es ist dunkel. Die einzige Lichtquelle ist ein Scheinwerfer, der hinter der Frau durch den Nebel leuchtet und mich nur ihre Silhouette erkennen lässt – und die des Kindes.
Es ist eines dieser Bilder, das ich sehe, wenn ich meine Augen schliesse. Ein Traum, doch ich schlafe nicht. Ich schlafe kaum noch – kann das Erlebte auch nicht im Schlaf verarbeiten. Träume wie diesen habe ich bei vollem Bewusstsein. Die Bilder gleichen denen, die ich jeden Tag und jede Nacht erlebe.
Der Scheinwerfer wird heller – blendet mich. Ich höre einen Schrei. Der Schrei ist echt. Ich reisse die Augen auf. Statt ein Scheinwerfer ist es eine Taschenlampe, die mich blendet. Der Polizist, in dessen Hand sie liegt, macht einen schnellen Schritt auf das Auto zu. Er schreit noch einmal – auf Kroatisch.
Übermüdet, dreckig und unterkühlt liege ich auf der Ladefläche eines Vans. Wir verlassen das gesperrte Grenzgebiet zwischen Kroatien und Serbien, um in ein Hostel zu fahren, wo ich nach einer knappen Woche endlich wieder duschen und in einem richtigen Bett schlafen will. Während ich aufgeschreckt den Polizisten anschaue, male ich mir aus, dass die Nacht doch noch viel länger werden könnte.
Der Polizist beginnt breit zu grinsen, zwinkert mir zu und winkt uns durch. Jetzt erkenne ich den bulligen und streng aussehenden Mann. Ihn konnte ich mehrmals beobachten, wie er sich um Flüchtlinge kümmerte: Ihnen Licht gab, um die Schuhe zu wechseln, alten Menschen beim Gehen half und Wasser für sie holte. Er ist einer der Polizisten, der selbst vor dem Balkankrieg geflohen war und entsprechend empathisch mit den Kriegsflüchtlingen umgeht, die hier ankommen.
Vor der temporären Busstation bilden sich lange Schlangen, wenn nicht genügend Busse zur verfügung stehen. (Bild: Simon Krieger)
Erleichtert lehne ich mich zurück und schliesse die Augen wieder. Ich sehe eine lange Schlange von Menschen – ähnlich der, an der wir gerade vorbeigefahren sind. Rund 5000 Menschen überqueren hier in Bapska täglich die Grenze. Sie kommen nahe der serbischen Grenzstadt Šid mit dem Bus an. In Gruppen zu 50 Personen werden sie dann zur Grenze begleitet – von tschechischen Freiwilligen, die den ganzen Ablauf auf der serbischen Seite der Grenze organisieren. An dem kleinen, inoffiziellen Grenzübergang werden die Gruppen von der kroatischen Polizei in Empfang genommen und knapp zwei Kilometer weiter zu den Bussen gebracht, die sie weiter zur Registrierung nach Opatovac bringen.
«Go, go, go! In two lines!» Tag und Nacht höre ich die Rufe der Polizisten. Denn entlang der Strecke zu den Bussen haben wir unsere Zelte aufgebaut. Zu fünft sind wir aus Basel hierhin gefahren, um für Menschen auf der Flucht zu kochen. Rastplatz nennen wir das Projekt.
Als wir ankamen war eine Gruppe aus Graz vor Ort die über das Wochenende blieb – die jedes Wochenende dahin fährt, wo es am nötigsten ist. Von ihnen haben wir zwei Zelte übernommen und ihnen einige Tische abgekauft. Inzwischen haben wir fast 120 Quadratmeter Zeltfläche, auf der wir kochen, Tee ausschenken sowie Kleider und Schuhe herausgeben und eine Wickelstation anbieten.
Unsere kleine Bemühung, grosses Elend etwas zu lindern: Das Tee- und Essenszelt von Rastplatz nahe des Grenzpostens. (Bild: Simon Krieger)
Auf einem kleinen Hügel auf der anderen Strassenseite stehen zwei weitere Zelte: das Lager für Lebensmittel und eine Feldküche. Betrieben wird diese von schwedischen Küchenchefs. Bei der temporären Busstation werden ebenfalls Kleider und Tee verteilt. Bis zu unserer Ankunft wurde das Essen der schwedischen Köche meistens hier herausgegeben.
Die Organisation ist sehr organisch. Wir sprechen uns untereinander ab, teilen die Hilfsgüter und Einkäufe und helfen einander aus. «Sharing is caring», lautet das Mantra. Zum tschechischen Team auf der serbischen Seite steht der Kontakt mit Walkie Talkies. Meistens lassen uns die Polizisten aber die EU-Aussengrenze problemlos passieren.
In unseren Zelten arbeiten wir mit verschiedene Projektgruppen und Einzelpersonen aus ganz Europa zusammen, um 24 Stunden am Tag da sein zu können. Niemand hat das Sagen und trotzdem – oder gerade deswegen – funktioniert es. Unser kleines Zeltdorf ohne Hierarchien.
Der inoffizielle Grenzübergang zwischen Serbien und Kroatien in Berkasovo/Bapska ist der letzte, der für die Flüchtlinge offen geblieben ist. (Bild: Simon Krieger)
Ich denke an den jungen Syrer, der wissen wollte, wer wir sind, ob wir zu einer Organisation gehören und warum wir kamen. «Eigentlich würde ich am liebsten hier bleiben», beteuert er nach meiner Erklärung und ergänzte: «Das hier ist sogar noch besser als Deutschland.» Der Gedanke daran macht mich glücklich und traurig zugleich. Gefühle, die ich hier ohnehin oft kaum auseinander halten kann.
Auf Lesbos – kurz bevor die Flüchtlingskrise offensichtlich wurde – habe ich mir Geschichten von Flüchtlingen angehört. Von einzelnen Menschen aus Syrien oder aus dem Sudan. Ich hatte die Zeit, mich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Hier sind es tausende Menschen täglich. Individuen verschwinden in der Menge.
Es sind kleine Momente, die mir wieder vor Augen führen, dass die Tausenden Menschen vor mir auf der Flucht sind. Dass sie alle eine Geschichten zu erzählen hätten – allzuoft von Krieg und Terror. Daran zu denken, ist beklemmend. Es bestärkt mich aber auch, hier zu sein – Verantwortung zu übernehmen. Doch diese Verantwortung bedrängt mich zusätzlich – sie lässt mich nicht schlafen. Deshalb das Hostel. Deshalb die Distanz.
Tausende Flüchtling überqueren täglich die serbisch-kroatische Grenze. (Bild: Simon Krieger)
Der Van, in dem ich liege, gehört den Schweden. Wir fahren auf einer Landstrasse Richtung Ilok, einem kleinen Dorf nahe der Grenze. Im Halbschlaf verfolge ich schmunzelnd die Unterhaltung der schwedischen Köche – schwarzer Humor und ab und an ein Schluck schwarzgebrannter Rakia hilft bei Verstand zu bleiben. Die Schweden sind schon länger in Bapska. Als sie hier ankamen, seien die Zustände noch wesentlich chaotischer gewesen, erzählten sie.
Da sie jeden Tag möglichst grosse Mengen nahrhaftes Essen bereitstellen, fokussieren wir von Rastplatz uns kulinarisch darauf, etwas spezielles zu bieten. Wir kochen Maklube – ein Gericht, dass ich in Palästina gelernt habe. Dort, wie auch in Syrien, wird Maklube traditionellerweise für Gäste zubereitet.
Wir kochen es ohne Fleisch – aus Kosten- vor allem aber auch aus Hygienegründen. Trotzdem besucht uns seit einigen Tagen regelässig das Hygieneamt. Im Registrierungscamp Opatovac hätten einige wenige Flüchtlinge Durchfall gehabt. Die Behörden versuchen nun, die Freiwilligen, die entlang der Route kochen, dafür verantwortlich zu machen. Dass es auf derselben Route kaum sanitäre Anlagen gibt und es ohne die Freiwilligen auch kaum eine Versorgung mit Lebensmitteln geben würde, scheint kein Gewicht zu haben.
Tee und Lebensmittel sind sehr gefragt. Viele Flüchtlinge haben seit langem nicht richtig gegessen, erst recht nichts warmes. (Bild: Simon Krieger)
«Ohne euch würde hier doch nichts funktionieren», hatte einer der Polizisten gesagt. Viele von ihnen, wie auch von den wenigen anwesenden Mitarbeitern des Roten Kreuzes, unterstützen unsere Arbeit. Sie fordern uns sogar dazu auf, trotz des Verbotes weiter zu kochen.
Verständnis für den Entscheid der Behörden hat kaum jemand. Seit kürzlich die Anweisung kam, keinen Tee mehr zu kochen, da auch dieser ein Hygienerisiko sei, bezweifeln die meisten auch, dass es den Behörden tatsächlich um die Gesundheit der Flüchtlinge geht.
Politische Gründe werden vermutet. Einige der Freiwilligen – vor allem der lokalen – erheben Vorwürfe an das kroatische Rote Kreuz deren Aufsichtsrat von Politikern besetzt ist, die sie der Korruption bezichtigen. Mehrere Politiker von ihnen sollen der nationalkonservativen Oppositionspartei HDZ angehören, die verdächtigt wird, hinter Einschränkungen, Hygienevorschriften und auch der Akkreditierungspflicht für die Helfer zu stehen. Es gehe der Partei darum, die unabhängige Hilfe einzudämmen, um das Image des Roten Kreuzes zu wahren.
Ich will duschen und dann schlafen. Mich ausruhen und neue Energie tanken. Bald könnte der Einsatz von Neuem beginnen.
Fest steht, dass das kroatische Rote Kreuz öffentlich blamiert wurde, und es – wie auch die Behörden – in einem schlechten Licht steht, weil ein Grossteil der Flüchtlingshilfe von Unabhängigen geleistet wird. Fest steht aber auch, dass die wenigen Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die vor Ort sind, mit uns kooperieren und die Polizeikräfte kaum je nach der Akkreditierung fragen.
Ilok. Wir sind angekommen. Endlich, das Hostel!
Betrieben wird es de facto von den Schweden – zum Besitzer haben sie nur telefonisch Kontakt. Im Aufenthaltssaal erwarten uns mehrere neu angekommene Freiwillige. Es herrscht reges Treiben. Doch ich habe keine Energie mehr. Ich will duschen und dann schlafen. Mich ausruhen und neue Energie tanken. Bald könnte der Einsatz von Neuem beginnen: Wenn es in Bapska einigermassen ruhig bleibt und genügend Helfer da sind, um das Angebot weiter aufrecht zuerhalten, zieht Rastplatz weiter an den nächsten Grenzübergang. Nach Preševo an der serbisch-mazedonischen Grenze, wo Hilfe dringend nötig ist.
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Das Team von Rastplatz verbrachte insgesamt einen Monat in Kroatien und Serbien. Am 7. Dezember machen sich Simon Krieger und Co. auf zum zweiten Einsatz. Bevor sie abfahren, kochen sie diesen Freitag – 27. November 2015 – von 14 bis 22 Uhr für die Basler Bevölkerung. Auf der Kleinbasler Seite der Mittleren Brücke bieten sie Tee und Maklube an und laden alle zu Gesprächen ein, die mehr erfahren wollen – über das Projekt oder die Lage. Rastplatz ist auf Spenden angewiesen und kann auf www.rast-platz.ch unterstützt werden.