«Es ist nicht mein Krieg» – der syrische Flüchtling Chakib über den Konflikt in seiner Heimat

Chakib ist erst vor den Soldaten Assads aus seinem Heimatdorf Aleppo und später vor dem Islamischen Staat ganz aus Syrien geflohen. Heute hofft er nur noch auf eines: einen positiven Asylentscheid in Griechenland. Unser Fluchtweg-Blogger hat sich Chakibs Geschichte angehört. «Lasst mich wenigstens duschen, habe ich sie nach einer Woche gebeten», sagt Chakib. Der Syrer […]

Chakib in seiner Unterkunft im offenen Flüchtlingslager PIKPA.

Chakib ist erst vor den Soldaten Assads aus seinem Heimatdorf Aleppo und später vor dem Islamischen Staat ganz aus Syrien geflohen. Heute hofft er nur noch auf eines: einen positiven Asylentscheid in Griechenland. Unser Fluchtweg-Blogger hat sich Chakibs Geschichte angehört.

«Lasst mich wenigstens duschen, habe ich sie nach einer Woche gebeten», sagt Chakib. Der Syrer erzählt mir von seinem Aufenthalt im Transitbereich der griechischen Insel Chios. Anders als die meisten Flüchtlinge ist er mit der Fähre aus der Türkei gekommen. Die Grenzwächter wollten auf sein Asylgesuch nicht eingehen, liessen ihn nicht ins Land. «Ich steckte im Transit fest», sagt er. Einer der Grenzwächter habe ihn gefragt, warum er nicht einfach 800 Euro an einen Schlepper bezahle, so wie alle anderen auch, und dann mit dem Boot komme. 

Ich denke an die Flüchtlingsboote, an die Schwimmwesten, die überall an der Westküste der Insel herumliegen. An die Gefahren der illegalen Überfahrt. Wie Chakib bin auch ich mit der Fähre von der Türkei nach Griechenland gekommen. Für 15 Euro von Ayvalik nach Lesbos. Ich wurde nicht aufgefordert, mit dem Gummiboot einzureisen. Meine Herkunft garantiert mir die Reisefreiheit. Chakib ist aus Aleppo. Eins stolzer Besitzer eines kleinen Ladens für Frauenkleider, nun auf der Flucht.

Der 49-Jährige beginnt seine Geschichte mit seinem ältesten Sohn, dem Sohn seiner ersten Frau, den er erst vor ein paar Jahren kennengelernt habe. «Wir wurden wie Freunde. Ich habe alles für ihn getan, ihm alles gegeben.» Er erzählt von seiner zweiten Frau, den drei Kindern, die er mit ihr hat. Und dann davon, wie die Proteste begannen. Wie eine junge Frau in seinen Laden kam, um ihn zu verführen. «Sie arbeitete für Assad», erzählt Chakib. «Hilf uns und wir helfen dir», habe sie ihm angeboten. Doch er habe geantwortet: «Ich kann nicht für euch arbeiten.» Diese Begegnung lässt für ihn nur eine Folgerung zu: «Assad macht alles, um an der Macht zu bleiben.»



Aleppo Juni 2010. 

Aleppo Juni 2010.  (Bild: Khaled Al Hariri / Reuters)

Als sich im Frühling 2011 der Bürgerkrieg abzeichnete, habe seine Mutter ihn aufgefordert, Aleppo zu verlassen. Er solle ins Heimatdorf seiner Familie, Qabasin, nahe von Al Bab. «Ich habe nicht auf sie gehört», gesteht er. Das Leben sei schwieriger geworden. Einmal habe ihn ein Soldat der syrischen Armee zusammengeschlagen. Seine Frau und die Kinder habe er nach Qabasin geschickt. Chakib selbst blieb in Aleppo. Er wollte nicht aufgeben. «Bis dahin hatte ich eigentlich ein gutes Leben in Syrien», sagt er.

Ein Foto von Ahmad, Chakibs Sohn, auf Chakibs Mobiltelefon.

Qabasin war in der Hand der Rebellen. Chakib ist noch immer entsetzt, als er mir erzählt, wie er sehen musste, dass die internationalen Hilfsgüter von einigen Wenigen gehortet wurden. Menschen, die vor der Revolution keinen Einfluss gehabt hätten, hätten plötzlich das Sagen gehabt. «Sie haben die Hilfsgüter gestohlen, nur Auserwählten weitergegeben und den anderen verkauft.»

Er habe nicht Teil dieses korrupten Systems sein wollen, sagt Chakib. Folglich sei es auch für ihn schwierig geworden, an Lebensmittel zu kommen. «Meinen Sohn, mein Zuhause und meine Arbeit habe ich verloren», klagt er, «ich hatte noch mein Auto, aber das verkaufte ich, um die Familie ernähren zu können.»

Die Lebensmittelpreise sind wegen des Krieges um ein Vielfaches angestiegen. Lieferengpässe, aber auch Korruption sind Gründe dafür. Alleine dieser Umstand, veranlasst viele Menschen ihre Heimat zu verlassen. Diese Geschichte höre ich immer wieder auf meiner Reise und ich kann nicht anders, als an die Unterscheidung zwischen «richtigen» und «falschen» Flüchtlingen zu denken, die in der Schweiz gemacht wird. Als ob es entscheidend wäre, ob das Leben eines Menschen nun durch Waffen oder vom Hunger bedroht wird.



Fighters of al-Qaeda linked Islamic State of Iraq and the Levant carry their weapons during a parade at the Syrian town of Tel Abyad, near the border with Turkey January 2, 2014. Picture taken January 2, 2014. REUTERS/Yaser Al-Khodor (SYRIA - Tags: POLITICS CIVIL UNREST CONFLICT) - RTX170U8

IS Kämpfer an einer Parade in Tel Abyad. Symbolbild. (Bild: Yaser Al-Khodor / Reuters)

Chakib trotzte der widrigen Situation und blieb in Syrien. Dann kam Daesh, der Islamische Staat. Sie rissen die Kontrolle über das Dorf an sich: Aus der Schule wurde ein Gefängnis. Unterricht gab es nur noch in der Moschee. «Sie schickten einen Freund von mir – Daesh schickte ihn», sagt Chakib. «Schliess dich uns an. Die Menschen vertrauen dir», habe dieser Freund zu ihm gesagt. Seine Familie sei gut in dem Dorf verankert, seine Unterstützung für den Islamischen Staat deshalb wertvoll. «Ich glaube nicht an Daesh – an ihren Charakter», antwortete Chakib.

An einer Hochzeitsparty wurde Chakib zum ersten Mal verhaftet, zusammen mit anderen Gästen. Die Musik missfiel den Gotteskriegern des Daesh. Als «Feind Gottes» sei er bezeichnet worden. «Warum? Ich mache meine Gebete!»

Nach fünfzehn Tagen habe ihn ein saudischer Kommandant in seiner Zelle abgeholt und nach draussen an eine Mauer geführt. «Die Mauer war voller Löcher», erzählt Chakib. «Dann hob er seine Waffe.» Chakib flüstert nun: «Ich habe alle Hoffnung verloren.» Dann wird er wieder laut: «Wenn er abdrückt, bin ich tot. Niemand wird ihn fragen, warum er das gemacht hat.»

Nicht für Flüchtlinge gedacht: Die Fähre von Ayvalik nach Lesbos.

Eine Einreise mit Schlepper kam für Chakib trotzdem nie in Frage. «Warum denn auch? Ich habe Papiere, eine griechische Bankkarte.» Das habe er dem Grenzwächter gesagt, der seine Entscheidung nicht verstehen konnte. «Ich kann nicht mit dem Boot gehen. Ich bin alt. Vielleicht sterbe ich an der Kälte», habe er ihm gesagt.

17 Tage lang steckte Chakib im Transit auf Chios fest. Schliesslich wurde er in ein Erstaufnahmezentrum geschickt. Jetzt wartet er hier im offenen Flüchtlingslager auf seinen Entscheid. Bei einem positiven Asylentscheid wolle er den Nachzug seiner Frau, seiner zwei Söhne und seiner Tochter regeln. In ein anderes europäisches Land würde er gerne gehen, sagt Chakib, aber auch das müsse warten. Die illegale Reise ist ihm nach wie vor zu gefährlich. Auch für eine Rückreise nach Syrien fühlt er sich zu alt. Und überhaupt glaubt er: «Frieden in Syrien werde ich wohl nicht mehr erleben.»

Auf den Spuren des jungen Afghanen Javed reist Simon Krieger seinen Fluchtweg zurück bis in den Iran. Dort trifft er Javeds Mutter, um für Javed ein Foto von ihr zu machen. Der afghanische Flüchtling kann sich – nach elf Jahren ohne Papiere in Griechenland – nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Diese Reise dokumentiert der Blog «Fluchtweg».



Die ungefähre Route von Javeds Flucht aus dem Iran bis nach Griechenland.

Die ungefähre Route von Javeds Flucht aus dem Iran bis nach Griechenland.

 

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