Schritt für Schritt dringt das wahre Ausmass der Gewaltwelle, die Ägypten seit Mittwoch erfasst hat, ans Tageslicht. Die Regierung spricht mittlerweile von mindestens 578 Menschen, die seit der Räumung der Protestcamps getötet wurden.
In Kairo stürmten am Donnerstag Hunderte Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi ein Regierungsgebäude. Auch in Alexandria gingen Hunderte Islamisten auf die Strasse, um gegen die Räumung zweier Protestlager in Kairo zu demonstrieren. Bei einer Massenschlägerei kamen hier mindestens vier Menschen ums Leben, 45 Personen wurden verletzt.
Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Die Bewegung werde nicht ruhen, bis «der Militärputsch» gegen Mursi der Vergangenheit angehöre, erklärte ein Sprecher der Bruderschaft über den Kurznachrichtendienst Twitter. Und Anhänger der radikalen Islamisten-Vereinigung Dschihad wollen am Freitag gemeinsam mit den Muslimbrüdern gegen die neue Übergangsregierung protestieren.
Geplant seien an diesem «Freitag der Wut» zwar friedliche Kundgebungen; aber es könne niemand garantieren, dass es dabei nicht zu Gewalt und Brandanschlägen kommt, sagte der Generalsekretär der von der Dschihad gegründeten Islamischen Partei, Mohammed Abu Samra, dem Nachrichtenportal der Tageszeitung «Al-Masry Al-Youm».
Mehr als 500 Tote
Die Gewalt war am Mittwoch in zahlreichen Städten Ägyptens eskaliert, nachdem die Sicherheitskräfte zwei Protestlager der Mursi-Anhänger in Kairo geräumt hatten. Es kam zum schlimmsten Blutvergiessen an einem einzigen Tag in Ägypten seit Jahrzehnten.
Das Gesundheitsministerium erhöhte die Totenzahl am Donnerstag auf 578, weitere 3500 Menschen seien verletzt worden. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch höher liegen, da in den amtlichen Angaben nur Tote aufgeführt werden, die in Spitäler eingeliefert wurden. Die Muslimbruderschaft sprach von 3000 Toten.
Die UNO forderte eine unabhängige Überprüfung, um das Verhalten der Sicherheitskräfte bei den blutigen Auseinandersetzungen zu beurteilen. Die hohe Zahl der getöteten oder verletzten Menschen deute auf einen «übermässigen, sogar extremen Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten hin», sagte UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay in Genf.
Sicherheitsrat tagt
Der UNO-Sicherheitsrat kam am späten Donnerstag zu einer Dringlichkeitssitzung zur Lage in Ägypten zusammen. Bei dem Treffen hinter verschlossenen Türen um 23.30 Uhr (MESZ) sollten das Gremium und der stellvertretende Generalsekretär Jan Eliasson über die Entwicklung informiert werden, wie ein UNO-Diplomat bestätigte. Ob der Sicherheitsrat eine Resolution verabschieden wird, blieb zunächst unklar.