Im ersten Halbfinal kommt es heute in Belo Horizonte zum Duell der Giganten zwischen Rekordweltmeister Brasilien und Deutschland. Wie kann der Gastgeber den Ausfall von Superstar Neymar verkraften?
Das Drama um Neymar war am Wochenende in Brasilien das mediale Dauerthema. Der Schock sass tief im ganzen Land, eine «Katastrophe» nannte Brasiliens Trainer Luiz Felipe Scolari den Ausfall der Nummer 10. Mit dem miesen Kniestich des Kolumbianers Juan Zuniga in die Lendengegend des brasilianischen Idols in der Schlussphase des Viertelfinals Brasilien gegen Kolumbien (2:1) wurde das Gesicht dieser WM und der designierte Superstar kaputtgetreten. Gerüchte, dass Neymar im Final am Sonntag dank schmerzstillenden Medikamenten auflaufen könnte, dementierte das brasilianische Ärzteteam umgehend. Die «Hexacampeão» muss die «Seleção» ohne ihren Toptorschützen (4 Tore) schaffen.
Inzwischen ist der Schock einigermassen verdaut, vor dem Duell gegen Deutschland, dem seit Beginn des Turniers am meisten gefürchteten Widersacher, macht sich Aufbruchstimmung breit. «Der Titel als Hommage für Neymar», forderte die Zeitung «Meia Hora». Captain Thiago Silva, der wegen einer Gelbsperre den Halbfinal ebenfalls verpassen und durch Dante ersetzt wird, versprach: «Wir werden für Neymar siegen.» Auch das Opfer, das sich in einer Videobotschaft an die Nation wandte, verbreitete Optimismus: «Ich bin sicher, dass meine Teamkollegen alles tun werden, um diesen Pokal hoch zu heben. Sie werden den Titel holen, und ich werde bei der Mannschaft sein. Ganz Brasilien wird zusammen feiern.»
Hoffnung macht den Brasilianern auch die Geschichte. Vergleiche mit der WM 1962 in Chile werden herangezogen, als im zweiten Spiel der Vorrunde Pelé mit einem Muskelfaserriss für den Rest des Turniers ausfiel. Amarildo ersetzte ihn und schoss im letzten Vorrundenspiel gegen Spanien beide Tore zum 2:1-Sieg, womit sich Brasilien für die Viertelfinals qualifizierte. Angeführt von den überragenden Garrincha und Vava schaffte es Brasilien danach auch ohne Pelé, den Titel als bislang letztes Team erfolgreich zu verteidigen. Amarildo traf beim 3:1-Sieg im Final gegen die Tschechoslowakei noch einmal. 52 Jahre später soll nun Willian, der 25-jährige Mittelfeldspieler von Chelsea, für die verletzte Nummer 10 in die Bresche springen.
Auch auf Seite der Deutschen war der Ausfall von Neymar ein grosses Thema. «Die Verletzung wird die Truppe zusammenschweissen», sagte Bastian Schweinsteiger. Laut Bundestrainer Joachim Löw könne ein solcher Ausfall auch neue Kräfte freisetzen. Für ihn ist noch immer Brasilien in der Favoritenrolle: «Der Druck liegt bei ihnen. 200 Millionen Menschen, Fussball-Land, Rekordweltmeister, zu Hause. Wenn sie den Halbfinal verlieren, ist das Volk unzufrieden.»
Vor der Abreise aus dem Camp in Santo André im Bundesstaat Bahia bedankte sich Schweinsteiger für die Gastfreundschaft: «Die Leute sind uns hier sehr respektvoll und mit viel Lebensfreude begegnet. Das hat uns gut getan», sagte der Vize-Captain. Im Halbfinal heute soll mit den Freundlichkeiten Schluss sein, denn für Deutschland gibt es nur ein Ziel: Die Rückkehr nach Rio de Janeiro, wo am Sonntag der Final im Maracanã stattfinden wird. «Wir waren bei den letzten fünf Turnieren unter den letzten Vier. Jetzt wollen wir den nächsten Schritt machen», so Löw. André Schürrle sagte bereits nach dem 1:0 gegen Frankreich stellvertretend für die Mannschaft: «Jetzt gibt es kein anderes Thema mehr als den Final und den Titel.»
Im Gegensatz zum Gastgeber hat Deutschland vor dem 22. Duell mit Brasilien (vier Siege) keine personellen Sorgen zu beklagen. Ausser Shkodran Mustafi sind alle 22 Spieler fit. Löw dürfte auf die gleiche Mannschaft zählen wie im Viertelfinal gegen Frankreich (1:0). Im Sturm kommt wohl wieder Miroslav Klose zum Zug, um die starke brasilianische Innenverteidigung zu beschäftigen, Captain Philipp Lahm wird erneut auf seiner angestammten Position hinten rechts beginnen. Besonders für Klose und Lahm, neben Ersatztorhüter Roman Weidenfeller und Per Mertesacker die beiden einzigen über 30-Jährigen im Kader Deutschlands, ist es wohl die letzte Chance, in einen WM-Final einzuziehen. «Ich brauche definitiv nicht mehr um Platz drei zu spielen», so Lahm.
Je sieben Mal standen die beiden Grossen des Weltfussballs bisher in einem WM-Final. Brasilien, das als einzige Nation an allen Endrunden teilgenommen hat, holte den Pokal fünfmal, Deutschland dreimal. Trotz ihrer ruhmreichen WM-Geschichte sind die beiden Teams aber erst einmal an einer Endrunde aufeinander getroffen. 2002 im Final im japanischen Yokohama siegte Brasilien, das auch damals von Scolari betreut worden war, dank zwei Treffern von Ronaldo auf dem Weg zum fünften und bisher letzten WM-Titel 2:0. Der WM-Rekordtorschütze (15 Tore/wie Klose) glaubt trotz des Ausfalls von Neymar an einen Sieg Brasiliens: «Die ‚Seleção‘ wird immer der Favorit bleiben, gegen jede Mannschaft der Welt.»
Geleitet wird die heutige Partie in Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaats Minas Gerais, vom Mexikaner Marco Rodriguez. Die Nomination des 40-Jährigen überrascht. Rodriguez hatte in der Vorrunde die Partien Belgien gegen Algerien (2:1) und Uruguay gegen Italien (1:0) gepfiffen. Im Duell der beiden ehemaligen Weltmeister übersah Rodriguez die Beiss-Attacke des Uruguay-Stürmers Luis Suarez am italienischen Verteidiger Giorgio Chiellini. Es war der am meisten diskutierte Fehlentscheid an dieser Endrunde.