Haben Sie noch keine zündende Idee für etwas Bewegung zwischen den Festtagen? Oder für den Neujahrspaziergang? Wir hätten da einen Vorschlag: Die «Stadtflaneure» waren im Niemandsland zur französischen Grenze unterwegs. Und haben manch Unerwartetes gesichtet.
Basel stösst auf allen Seiten schnell an Grenzen, die nicht nur die eigenen sind. Diese Not hat die Stadt längst zur Tugend gemacht: «Trinational» nennt sie sich und ist stolz darauf, dass ihre Agglomeration in drei verschiedenen Ländern wuchert. Der Grenzraum selbst ist aber für viele noch ein weisser Fleck auf der Landkarte, besonders auf grossbasler Seite. Wir haben deshalb in diesem Niemandsland zwischen Stadt und Umland vorbeigeschaut und festgestellt: Ein Spaziergang entlang von Basels französischer Grenze lohnt sich.
Die grüne Grenze
Wenn man an der Hegenheimerstrasse über die französische Grenze geht, hört die Stadt plötzlich auf. Links ragen die Silos eines Kieswerkes in den Abendhimmel, als wären sie die letzten Zeugnisse der Zivilisation an der Strasse. Geradeaus verliert sich die Landschaft schnell hinter einigen Bäumen und niedrigem Buschwerk. Das lässt einen unvermittelt etwas verloren stehen: Da draussen ist nichts.
Dafür schliesst sich gleich rechts ein weites Feld kleinkarierter Ordnung an. Wie Schanzenanlagen liegen die Schrebergärten des FGV Basel-West vor der Stadt; sie sind ein letztes Bollwerk der Agrikultur in einer urbanen Gesellschaft. Durch ein grün gestrichenes Gittertor gelangen wir hinein.
Es ist ruhig hier an diesem Dezemberabend. Nur wenige Leute sind unterwegs. Einer werkelt noch fleissig an seinem Unterstand, etwas weiter haben sich Andere zur letzten Grillparty des Jahres getroffen. Während an anderen Orten Ende Jahr definitiv Schluss ist, geht es hier im Sommer wieder los: «Es grünt und blüht, Kinder spielen im Garten, ihre Eltern pflanzen, giessen und ernten», wirbt die Stadtgärtnerei. Für rund 3800 Franken ist man in Basel-West dabei.
Die Wege zwischen den Parzellenblöcken sind streng rechtwinklig angelegt. Wenn man hindurch spaziert, hat es etwas Meditatives. Wie in einem Klostergarten, nur mit Zäunen anstatt Mauern rundherum. Als wir zurückkommen, ist unser Eingangstor zugesperrt. Ein freundlicher Gartennutzer lässt uns wieder raus und erklärt, dass eigentlich immer abgeschlossen sei: «Sonst werden die Gartenhäuschen ausgeräumt.»
Stehenbleiben unerwünscht
Auf der Schlachthofbrücke ist man als Spaziergänger fehl am Platz. Alles ist auf Mobilität im grossen Massstab ausgelegt. Richtung Süden treibt die Autobahn mit den Zufahrten einen regelrechten Keil in die Stadt hinein. Den Tunnelschlund an seinem Ende passieren rund 50‘000 Fahrzeuge täglich, meldet die automatische Zählstelle des ASTRA. Auf der anderen Seite stehen Lastwagen und Anhänger in Reih und Glied auf den Warteplätzen des Warenzolls. Die Fahrbahnen ziehen ihre Kurven in grosszügigen Radien, damit im Fluss bleibt, was sie passiert: Hier soll man nicht stehen bleiben müssen.
Gerade an diesem Ort des Durchgangs hat es aber seinen besonderen Reiz, zu verweilen. Die grosszügigen Verkehrsflächen lassen den Raum als Einheit wirken, die ruhig vor sich hin dampfenden Schlote der KVA und die spielzeugfarbenen Klötze von Casino und Airport Hotel stehen dezent Spalier. Hier hat der städtische Raum eine Offenheit, die man sonst in Basel selten findet. Plötzlich reisst uns eine Truckerhupe aus den Gedanken. Der Chauffeur winkt beschwingt über die Strasse; offenbar sind wir eine kleine Sensation hier, so ganz ohne Blech und Räder.
Etwas abseits von diesem Klüngel aus urbanen Notwendigkeiten, versteckt hinter einer Lärmschutzwand und dem Werkhof eines Baugeschäftes, wird noch gewohnt. Die hübsche Häuserzeile am Bachgraben wurde Anfang des letzten Jahrhunderts am kleinen Wäschereisträsschen, das ins Elsass führte, gebaut. Mit der Zeit wucherte die Industrie von Osten über die Geleise und die Strasse wurde zur Sackgasse. In fast allen Gebäuden wohnen die Eigentümer selbst. Die Häuser sind liebevoll weihnachtlich dekoriert, wie zum Trotz. Hinter den Garagen am Strassenende huschen nämlich die gierigen Klauen der Sortierbagger eines Schrottplatzes herum, als stünden sie schon lange auf der Lauer. Die Lage in diesem vergessenen Winkel inmitten grosser Verkehrsachsen hat aber auch seine Vorteile: Im Haus mit der Nummer 34 wird in zwei Zimmern Bed and Breakfast angeboten. Über die Festtage ist ausgebucht.
St. Louis ist gar nicht so weit weg
Der Grenzübergang Basel-Lysbüchel ist der einzige Ort, wo die Stadt wirklich direkt auf einen französischen Vorort trifft. Die Elsässerstrasse mündet hier in St. Louisʼ heimliche Magistrale, die Avenue de Bâle. Es herrscht reger Abendverkehr. Autos und Velos kurven zügig um die Plastikabsperrungen der Zollstation, die meisten stadtauswärts. An der Kohlestrasse leert sich gerade das Elfer-Drämmli, hier ist Endstation. Die Passagiere treten den Rest ihres Heimwegs über die Grenze zu Fuss an.
Häuserzeilen aus den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts flankieren den kurzen Strassenabschnitt, an dem die Platanen-Allee noch erhalten ist. Zur Grenze hin schliesst das Zollhäuschen ab. Die protzig rot gestrichene Metallkonstruktion breitet ihre schimmernd verkleideten Vordächer wie Flügel über die Strasse aus: Ein modernes Stadttor.
Es ist sowieso aussergewöhnlich städtisch hier draussen, für Basels Peripherie. Die obligate Tankstelle an der Ecke und die kleine UBS-Filiale zeugen vom regen Grenzgeschäft. Dann sind da noch die Beizen, Restaurants und Bistros auf beiden Seiten der Grenze und sogar ein Hotel. An einigen Orten werden bereits erste Industriegebäude umgenutzt. Vor 11 Jahren hat die Stiftung Edith Maryon auf dem ehemaligen Goldzack-Areal an der Ecke Kohlestrasse / Elsässerstrasse günstigen Wohn- und Atelierraum eingerichtet. Rund 50 Kunst- und Kleingewerbeschaffende sind heute in der «Genossenschaft Grenze» zusammengeschlossen und verwalten die Liegenschaft selbständig.
Vor fast zwei Jahren sah es noch so aus, als würde sich hier nicht viel ändern. Mittlerweile stehen auf rot-weiss abgesperrten Strassenflächen Baumaterial, Maschinen und Aushubmulden herum. Unter dem Spitznamen «Elsanord» macht das Tiefbauamt den Anwohnern die Aufwertung der Elsässerstrasse und das vorübergehende Theater mit den Umleitungen schmackhaft. In drei Akten gibt es ein neues BVB-Servicegebäude, ein paar Bäume mehr und vor allem eine bessere Verkehrsführung. Vielleicht rückt die Grenze mit der optischen Anbindung an den Voltaplatz tatsächlich näher ans Zentrum. Jetzt ist dieser kleine Flecken Stadt noch vom Rest abgeschnitten.
Ein moderner Schanzenring
Basel hat sich schon früher damit schwer getan, als die Stadt an ihre Grenzen gestossen war. Die Stadtmauern wurden erst nach einer Choleraepidemie Mitte der 1850er Jahren und im Zusammenhang mit dem von den Eisenbahnern durchgesetzten heutigen Standort des Centralbahnhofs geschliffen. Die ersten Stadterweiterungspläne sahen immer noch eine klare Begrenzung der Stadt mit breiten Ringstrassen und der Eisenbahn vor.
An der französischen Grenze sieht es so aus, als hätte man die alten Wälle wieder aufgeschüttet – zumindest funktional. Der Grenzraum ist von undurchlässigen Grossstrukturen geprägt: Der Novartis-Campus, das Schlachthofareal, die Infrastrukturschneise und die Schrebergartenfelder legen einen breiten Gürtel um den Norden von Basel. Die Stadt hat da eine fast natürliche Begrenzung, die das Umland vor ihren Wucherungen schützt.
Wenn man aber die Mauern stehen lässt, muss man die Tore pflegen. Die Vernetzung mit Frankreich ist vor allem fürs Auto und den Güterverkehr angelegt. Als Velofahrer braucht man schon eine Portion eiserne Gelassenheit, wenn auf den Ausfallachsen die Lastwagen an einem vorbeidonnern. Und als Fussgänger findet man den direkten Weg selten im ersten Anlauf.
Die Grenze ist in den Köpfen
Dass der Grenzraum so unzugänglich scheint, daran sind ausnahmsweise mal nicht nur Zäune und Mauern schuld. Die Barriere ist nämlich in den Köpfen. Im Durchschnitt liegt der Horizont des Bewusstseins auf der Höhe Kannenfeldpark – Voltaplatz. Oder, wenn man dort mal im Stau stand, beim Luzerner- und Wasgenring. Dahinter kennt man nicht mehr viel, ausser den Flughafen natürlich. Man orientiert sich lieber an der Innenstadt oder denkt dem Rhein entlang.
Diese Orientierung nach innen hat der lokale Think-Tank Metrobasel erst kürzlich zur Tugend erhoben: Die Ende November vorgestellte «Vision 2050» spürt unter anderem dem Spirit of Basel nach und will so «die über Generationen weitergegebene geistige Grundhaltung, die den wirtschaftlichen Erfolg der Region Basel ermöglicht hat» identifizieren. Wie es dort heisst, ist einer dieser erfolgreichen Wesenszüge der Stadt, dass sie selbstbezogen ist – aber gleichzeitig auch offen und neugierig.
Geht mal raus!
Wenn das stimmt, könnte in naher Zukunft die Neugierde am Grenzraum geweckt werden. An die Diskussion über die Tramverlängerungen hat man sich zwar mittlerweile gewöhnt. Die IBA-Basel 2020 hat aber noch andere Projekte in der Pipeline, die dem französischen Umland mehr Aufmerksamkeit bescheren könnte. Die Flughafenstrasse soll Auswärtige mit Kunst willkommen heissen, der Regio Grüngürtel informiert schon jetzt über das vielfältige Grün rund um die Stadt und unter dem Label Kiesgruben 2.0 könnte an ehemalgien Abbaustandorten bald Freizeit und Erholung Einzug halten. Diesem «Nichts», das in einem aufsteigt, wenn man an die französische Grenze denkt, ist definitiv der Kampf angesagt.
Um die weissen Flecken auf der mentalen Stadtkarte mit Farbe zu füllen, kann man sich mittlerweile bequem von zu Hause aus informieren. Besser ist aber immer noch: Einfach mal hingehen! Vor über hundert Jahren hat man, mit der Benennung der Strassen im Iselin zwischen Strassburgeralle, Blotzheimer- und Burgfelderstrasse, das Elsass in die Stadt geholt. Jetzt ist es an der Zeit, den Gang an die Grenze selbst zu wagen.