Eine rein pflanzliche Ernährung wird von vielen Influencern in den sozialen Medien seit Jahren propagiert. Und der Trend so um die Welt gestreut. Restriktives Essen zum Wohle von Tier, Umwelt und Mensch ist ein Kassenschlager.
Das Problem: Veganismus muss nicht gesund sein. Da ist zum einen die vielbeleuchtete Gefahr von Mangelerscheinungen. Eine weitere Dimension öffnet sich, wenn man einen Blick auf sogenannte Pro-Ana-Foren oder Blogs wirft.
Pro-Ana steht «für Anorexie». Es sind Websites von magersüchtigen oder eben anorektischen Menschen, meist Mädchen, die ihren Hungerprozess dokumentieren und Tipps gegen eine Gewichtszunahme auflisten. Einer, der immer wieder aufleuchtet: Ernähre dich vegan. Das erspart dir Kalorien – und nervige Fragen, wieso du nicht isst.
Wir wollten von Claudia Gramespacher wissen, ob sie hier eine gefährliche Entwicklung sieht. Gramespacher ist Leiterin des Zentrums für Psychosomatik und Psychotherapie (ZPP) der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). Seit über zwanzig Jahren behandelt sie Menschen mit Essstörungen.
Claudia Gramespacher, auf sogenannten Pro-Ana-Foren und Blogs findet sich oft der Tipp, man solle Vegetarierin werden oder sich vegan ernähren. Dann würden Familien und Freunde keine nervigen Fragen mehr stellen, wenn jemand etwas nicht isst. Vegetarismus und Veganismus als Maske – kennen Sie diese Taktik aus der Praxis?
So ist mir das noch nie begegnet. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass das sehr wirkungsvoll ist für eine Anorektikerin.* Alles, was dazu dient, die Angst vor einer Gewichtszunahme in Gang zu halten und nicht damit anzuecken, ist natürlich in ihrem Interesse. Nur reden sie nicht darüber, wenn sie sich auf diesen Seiten bewegen. Das wird ihnen ja auch verboten. Pro-Ana ist eine Art Sekte. Man muss sich an die vorgegebenen Regeln halten.
Auf Instagram sieht man jede Menge dünner Frauen, die ihren veganen Lifestyle und ihre dünnen Körper präsentieren. Veganismus ist derzeit im Trend. Sehen Sie hier eine Gefahr?
Absolut. Ich glaube auch, dass Veganismus ein Eingangstor in eine Essstörung sein kann. Aber man muss sehen: Es gibt so viele Leute, die vegan leben und nicht anorektisch sind. Es gibt auch noch kaum Zahlen dazu, wie viele wirklich über diesen Weg ungewollt in eine Essstörung rutschen.
Hatten Sie solche Fälle?
Ja. Die Patientinnen fingen harmlos an, wollten sich gesund ernähren und irgendwann waren sie in einer Anorexie drin. Anorexie und Veganismus haben Gemeinsamkeiten. Bei beiden gibt es ein perfektionistisches Ideal, das man verfolgen soll. Anorektikerinnen haben eine sehr strenge Seite. Und Veganismus als Ideologie ebenfalls. Das kann sich natürlich gegenseitig befruchten.
Tut es das? Was sagen die Zahlen?
Die Anzahl der an Magersucht Erkrankten hat nicht immens zugenommen. Bei der Bulimie, also der Ess-Brechsucht, weiss man es nie so genau, da gibt es grössere Dunkelziffern. In der Tendenz aber steigt die Zahl der Diagnosen. Jedoch nicht so massiv, wie man es erwarten müsste, wenn ein direkter Kausalzusammenhang bestünde.
Also Weg frei für Food-Trends?
Man muss sie hinterfragen. Oft steckt ein narzisstischer Drive dahinter. Dass wir immer besser sein müssen, uns optimieren sollen.
Wie ist es denn bei Ihnen, Frau Gramespacher: Leben Sie optimiert oder essen Sie Fleisch?
Ich esse alles. Ausser Rosinen (lacht).
Schrecklich, die Dinger.
Wie kann man nur irgendwo Rosinen reintun? (Lacht.) Aber zurück zum Thema. Ich versuche, bewusst zu essen. Im Sinn von: keine billigst produzierten Sachen. Beim Gemüse wie beim Fleisch. Aber ansonsten gilt für mich: Der Mensch ist ein Allesfresser. Der darf das auch. Ich versuche, nach dem Lustprinzip zu leben.
«Es gibt Theorien, die sagen, das Sexualitätsverbot von früher habe sich verschoben zu einem Essverbot.»
Eine vegane Ernährung steht dem ein Stück weit entgegen.
Das ist so. Es gibt im Moment einen narzisstischen Zeitgeist. Wir müssen immer perfekter und optimierter funktionieren. Das setzt uns alle unter Druck und führt zu Stress, deswegen gilt es das zu hinterfragen. Es gibt Theorien, die sagen, das Sexualitätsverbot von früher habe sich verschoben zu einem Essverbot. Es existiert wahrscheinlich im Menschen immer eine Instanz oder ein Bedürfnis, Dinge zu regeln und einzugrenzen. Und das hat sich ein Stück weit aufs Essen verschoben. Ich halte von all diesen Diäten für die allermeisten Menschen nichts.
Für die allermeisten?
Fälle von Adipositas (krankhaftes Übergewicht, Anm. d. Red.) nehmen stark zu. Es ist ein grosses Problem, das wahrscheinlich mit der heutigen Lebensmittelindustrie zu tun hat. Wir werden alle immer dicker. Da kann man nachvollziehen, dass als Gegenbewegung dazu diese ganzen Diäten aufkommen. Nur: Die Falschen machen sie. Nicht die Adipösen, sondern Menschen aus der Oberschicht, prototypisch gesprochen. Leute, die sich das leisten können. Vegane Produkte oder biologische Lebensmittel sind häufig teuer. Zudem sind Veganismus und Diäten wahre Lustkiller, psychodynamisch gesehen. Sie grenzen das Essen ein, kontrollieren es über den Kopf, obwohl es etwas Lustvolles sein könnte.
«Fleisch muss nicht sein. Auch eine vegetarische Ernährung ist okay. Veganismus ist einfach gefährlicher.»
Für anorektische Menschen sind das Eingrenzen und die Kontrolle besonders wichtig. Jetzt tun das viele andere um sie herum auch. Stellt sich da für Ihre Patientinnen nicht die Frage: Wieso darf ich nicht, aber alle anderen schon?
Ja, das ist eine grosse Schwierigkeit. Für sie ist es schwierig zu differenzieren. Und sie vergleichen sich auch ständig mit anderen, wollen noch weniger essen. Sich noch stärker kontrollieren.
Sie stecken in einem Zwang.
In einem Zwang, den sich die Erkrankten selber auferlegen – aufgrund ihrer innerpsychischen Situation auferlegen müssen. Das Krankheitsbild einer Anorexie ist nah an einer Zwangsstörung. Da gibt es ganz viele Parallelen, zu unterscheiden ist manchmal schwierig. Allzu fest wollen Anorektikerinnen gar nicht dazugehören. Sie haben häufig das Gefühl, nichts Eigenes zu haben. Also sind sie auf der Suche nach Autonomie. Sie wollen beziehungsweise müssen sich noch weiter von ihren Mitmenschen abgrenzen. Immer noch ein bisschen eingegrenzter essen als die Veganer zum Beispiel.
Sie wollen noch exklusiver sein.
Ja, in der Tendenz. Anorektikerinnen fühlen sich häufig fremdbestimmt, zum Beispiel von der Mutter, um das Klischee zu nennen. Also suchen sie etwas, was nur sie bestimmen. Und das ist ihre Krankheit.
Man kann eine Anorektikerin aber auch nicht dazu zwingen, Fleisch zu essen.
Fleisch muss auch nicht sein. Auch eine vegetarische Ernährung ist okay. Veganismus ist einfach gefährlicher. Das Risiko ist erhöht, in den alten Mustern zu bleiben. Aber eine vegetarische Ernährung ist sehr vielfältig, und das Risiko von Mangelerscheinungen ist niedriger. Zwingen kann man Anorektikerinnen aber sowieso zu nichts. Ich versuche vielmehr, ihnen ein Stück weit eine Lockerheit zu vermitteln. Zu sagen: Hören Sie, es ist mir egal, was Sie essen. Essen Sie einfach genug davon. Und es soll ihnen etwas Spass machen, ein bisschen schmecken. Sie sollen wieder auf ihren Körper hören können – die Körperkommunikation geht bei Anorektikerinnen nämlich völlig flöten.
Nützen Ihre Worte?
Damit gehen die Angst vor der Gewichtszunahme und die dahinterstehenden Konflikte natürlich nicht weg. Aber ich sage es trotzdem. Um einen Orientierungspunkt zu setzen.
Stichwort Gewichtszunahme: Youtube ist geflutet von Videos junger Frauen, die beteuern, durch den Veganismus aus ihrer Essstörung gefunden zu haben. Können Sie sich vorstellen, dass das funktioniert?
Das kann ich mir vorstellen, ja. Das Hauptkriterium für die Genesung ist, ein normales Gewicht zu erreichen. Wenn das eine Anorektikerin schafft und sie sich in ihrer Lebensqualität nicht eingeschränkt fühlt, ist Veganismus völlig okay.
«Mit veganer Ernährung ist es schwieriger, aus der Magersucht heraus ein normales Gewicht zu erreichen.»
Wenn jetzt eine Ihrer Patientinnen sagt: «Ich will mich vegan ernähren» – kein Problem?
Sie macht es sich einfach schwerer, mit veganer Ernährung zuzunehmen. Und Anorektikerinnen haben es dabei sowieso schon schwer.
Und es stellt sich die Frage: Will sich jemand wirklich gesund ernähren oder bloss sein Hungern verschleiern?
Das muss man in der Therapie herausarbeiten, inwiefern diese Krankheitskräfte noch mitspielen.
Während das Internet voller superschlanker Frauen ist, die Bilder ihres veganen Zmittags posten.
Das induziert sofort ein schlechtes Gewissen. Jemand, der sich nicht so ernährt, hat sofort das Gefühl: Oh, ich mache etwas Schlechtes, ich bin nicht perfekt und habe gesündigt. Deshalb sprach ich vorhin von der Parallele zum früheren Sexverbot. Die Trigger sind überall. Die kann man auch nicht vermeiden. Im Internet sowieso nicht, da läuft das einfach.
*Claudia Gramespacher behandelt zum allergrössten Teil Frauen. Es wurde deshalb auf die männliche Form verzichtet.
Leiden Sie unter einer Essstörung oder haben Sie das Gefühl, in eine hineinzurutschen? Bereitet Ihnen das Essverhalten Ihrer Kinder Sorgen? Es gibt verschiedene Anlaufstellen, an die Sie sich wenden können.
Für Kinder und Jugendliche:
– Der Kinder- und Jugenddienst Basel-Stadt (KJD) bietet Beratung und Unterstützung in verschiedensten Notsituationen.
– Auch der Schulpsychologischen Dienst Basel-Stadt steht für Beratung zur Verfügung.
– Auskunft gibt auch die Poliklinik der Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK. Sie vermittelt auf Wunsch an die richtige Ansprechsperson.
Für Eltern:
– Bei Sorgen oder Fragen können sich Eltern und Bezugspersonen bei der Anlaufstelle der Stiftung Pro Juventute wenden.
Für Erwachsene:
– Bei der Arbeitsgemeinschaft für Essstörungen (AES) kann man sich via Telefon oder Mail anonym melden und beraten lassen. Auch persönliche Beratungsgespräche sind möglich.