Der Bundesrat sendet mit dem Entwurf für eine neue Einbürgerungsverordnung ein fatales Signal: Wer Sozialhilfe bezieht, hat kein Recht auf politische Mitsprache.
Der Bundesrat hat den Entwurf für eine neue Einbürgerungsverordnung vorgelegt. Er schlägt vor, dass alle einbürgerungswilligen Personen eine Loyalitätserklärung unterzeichnen: Wer den Schweizer Pass will, soll erklären, dass er die in der Bundesverfassung festgelegten Grundrechte, rechtsstaatlichen Prinzipien und die freiheitlich-demokratische Grundordnung respektiert. Gleichzeitig schlägt der Bundesrat vor, dass Sozialhilfebezug und Vorstrafen einer Einbürgerung entgegenstehen.
Es fragt sich, ob der Bundesrat mit seinem Entwurf nicht selbst gegen den Geist unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstösst, deren Befolgung er von anderen verlangt.
Ein Grundprinzip der freiheitlichen Demokratie ist das Prinzip «One person, one vote»: In einer Demokratie soll jede Person über die Gesetze mitbestimmen, denen sie sich zu fügen hat – unabhängig von Geburt, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexuellen Präferenzen, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, gesellschaftlicher Konformität und so weiter.
Das Diskriminierungsverbot atmet denselben Geist. Es verbietet die Ungleichbehandlung aufgrund von Merkmalen, die nicht oder nicht ohne Weiteres zu unserer Disposition stehen: Herkunft, Rasse, Alter, Sprache, soziale Stellung usw. (Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung). Niemand darf aufgrund seiner sozialen Stellung in einem anderen Lebensbereich – zum Beispiel dem politischen – ausgegrenzt und stigmatisiert werden (dies gilt, auch wenn das Bundesgericht bisher die Frage offen liess, ob die Abhängigkeit von Sozialhilfe ein solches besonderes Merkmal der Persönlichkeit darstelle, das sich nicht ohne Weiteres abstreifen lässt).
Diskriminiert wegen Herkunft und sozialer Stellung
Eine grosse Bevölkerungsgruppe – die zum Teil seit Geburt hier ansässigen «Ausländer» – geniesst in der Schweiz jedoch aufgrund ihrer Herkunft – mit wenigen Ausnahmen auf kantonaler und kommunaler Ebene – keine politischen Rechte. Gegen das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer wird oft eingewendet, wer mitbestimmen wolle, solle sich einbürgern lassen.
Sozialhilfebezügern und Vorbestraften wird nun aber, geht es nach dem Willen des Bundesrats, die Einbürgerung grundsätzlich verwehrt. Daran ändern auch zahlreiche Ausnahmen (Krankheit, Erwerbsarmut, Betreuungsaufgaben) nichts.
Die Folge ist, dass Ausländer weder als Ausländer mitbestimmen noch als Armutsbetroffene sich einbürgern lassen können, um mitbestimmen zu können. Armutsbetroffenen Ausländern werden nun beide Wege zur politischen Teilhabe verwehrt. Dasselbe gilt auch für vorbestrafte Ausländer.
Mitbestimmung steht am Anfang der Integration und nicht am Ende.
Es sollen nun, geht es nach dem Willen des Bundesrats, gleich zwei vom Diskriminierungsverbot verpönte Kriterien herangezogen werden, um Menschen von politischer Teilhabe auszuschliessen: Herkunft und soziale Stellung. Während aber beim Kriterium «Herkunft» bisher auf die Möglichkeit der Einbürgerung verwiesen werden konnte, fehlen nun beim Vorhandensein beider Kriterien (Armut und «falsche» Herkunft) Auswege zur politischen Teilhabe. Dies ist unter freiheitlich-demokratischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen.
Analoges gilt in soziologischer Hinsicht: Mitbestimmung steht am Anfang der Integration und nicht am Ende. Anerkennung, soziale und politische Teilhabe sind in einer freiheitlichen Gesellschaft voraussetzungslos geschuldet. Erst wer sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft erkennt, kann auch Verantwortung übernehmen.
Ausgrenzung und Fremdstigmatisierung führen zur Selbststigmatisierung und diese dazu, dass man sich selbst nicht mehr als Teil der Gesellschaft begreift, in die man sich integrieren soll. Integration ist keine Einbahnstrasse und beginnt mit einem Geben von Anerkennung und Vertrauen. Das bundesrätliche Integrationsverständnis erschöpft sich in einem Fordern. Es verwechselt Integration mit der Anpassung an herrschende Verhältnisse und den herrschenden Geist. Integration bedeutet aber Teilhabe, nicht Anpassung.
Menschen «am Rand der Gesellschaft» liegen der Gesellschaft nicht einfach nur auf der Tasche, sondern besitzen eine Würde, die es in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu respektieren gilt.
Der Bundesrat sendet ein fatales Signal an alle Armutsbetroffenen, wenn er die Sozialhilfeabhängigkeit als Zeichen mangelnder Integration identifiziert. Der Umstand, dass es erst andere betrifft, nämlich die «Ausländer», verschleiert, dass allen Armen und allen Menschen, die nicht der Norm entsprechen, Teilhaberechte abgesprochen werden – wenn auch nur implizit.
Sozialhilfeabhängigkeit ist aber keine minderwertige Bedürftigkeit, an der man «selber schuld» ist und für die man sich schämen sollte. Sozialhilfeabhängigkeit ist nicht gleichzusetzen mit «liederlich» und «arbeitsscheu». Jeder Einzelfall ist anders, und viele Menschen werden vom Arbeitsmarkt auch dann nicht mehr nachgefragt, wenn sie alles geben, um Arbeit zu erhalten.
Das Diskriminierungsverbot verlangt einen unvoreingenommenen und keinen ausgrenzenden Umgang mit Sozialhilfebezügern, die ein Anrecht auf Hilfe haben (ähnlich verhält es sich mit vorbestraften Personen, die weitere Integrationschancen verdienen). Menschen «am Rand der Gesellschaft» liegen der Gesellschaft nicht einfach nur auf der Tasche, sondern besitzen eine Würde, die es in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu respektieren gilt. Dieser Würde wird man erst gerecht, wenn man den Einzelfall betrachtet und keine Pauschalurteile fällt.
Die fehlende Prinzipientreue des Bundesrates
Es müsste dafür gesorgt werden, dass die Sozialhilfe ihr stigmatisierendes Image endlich los wird. Der bundesrätliche Entwurf zur Einbürgerungsverordnung bewirkt das Gegenteil: Anstatt Vorurteile abzubauen affirmiert er soziale Ausschlussprozesse und gehorcht dem Zeitgeist vorauseilend. Von Mut und Prinzipientreue zeugt dies nicht.
Es fragt sich ganz generell, was der Bundesrat bewirkt, wenn er eine Loyalität zur freiheitlich-demokratischen Verfassung einfordert, die er ausgerechnet mit dem Verordnungsentwurf vermissen lässt, der diese Loyalitätsforderung enthält. Aus der Pädagogik weiss man jedenfalls, dass sich Werte nur vermitteln und einfordern lassen, wenn man sie auch selbst vorlebt.
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