Der eigentliche Alpenübergang: Genau am Mittag erreiche ich den Septimerpass, feiere das gebührend und freue mich, im Bergell Freunde zu treffen.
Der Morgen etwas grau und verhangen. Schon während des Frühstücks in einem Restaurant aber drückte die Sonne durch, der Wind vertrieb die Wolken, und als ich mit einem kleinen Fläschchen Champagner im Rucksack startete, war es sonnig und freundlich kühl. Die Touristen in Bivio sassen in den Gartenwirtschaften, der bequemere Teil unter ihnen jedenfalls, die anderen waren bereits auf den Pfaden in die Berge. Der Anstieg zum Septimer beginnt nahrhaft, ein paar Biker mühten sich neben mir hinauf, Bauern mähten Wiesen, auf der Julierstrasse nebenan kurvten die Autos hoch. Weit hinten die Passhöhe, in meinem Rücken der Marmorera-See.
Hatte den Septimerpass viel ausgeglichener in Erinnerung – als stete unauffällige Steigung. Doch er ist anders: mal fast flache Strecken über weite Ebenen, dann wieder zünftige Aufstiege. Ich merkte, dass ich in guter Kondition bin, trug meinen schweren Rucksack an vielen, weit leichter bepackten Wanderern vorbei. Sah linkerhand sich eine Schlange einer Jugendgruppe hinaufbewegen, hörte ihr Lachen und Rufen übers Tal hinweg. Es war ein anstrengender und gleichzeitig unbeschwerter Aufstieg – bald würde ich auf dem höchsten Punkt meiner Reise sein, auf zweitausenddreihundertzehn Metern über Meer auf meinem Alpenübergang und dieses Gefühl beflügelte mich. Eilte an einem Kreuz vorbei, hinter mir nur noch die Berge, wo ich Julier und Marmorerasee wähnte. Vor mir der weite Himmel, immer milchiger werdend in der Ferne – dort liegt Italien, dort beginnt das letzte Land meiner Wanderung.
Das enge Tal
Und dann, über dem Horizont der Passhöhe die Nadelspitzen der Scioragruppe. Wie oft hab ich sie von allen Seiten, von allen möglichen Punkten des Bergells aus gesehen, vor Jahren auch schon vom Septimer aus – aber jetzt erschienen sie mir wie eine Erlösung, ich spürte, wie immer etwas Banges in mir war, ob ich diese Alpenhürde auch wirklich überwinden würde auf dem Weg von Schottland nach Sizilien.
Ich spürte auch, wie ich nun ein grosses Stück meiner Reise bewältigt hatte. Die Frage, warum ich das eigentlich tue, war plötzlich verschwunden – ich hatte sie einfach angefangen, weil ich mal wissen wollte, wie gross eigentlich Europa ist. Und es kam in mir auch so ein Gefühl hoch, als ob ich in eine Heimat zurückkäme. Ich habe das Bergell schon sehr gern, dieses enge Tal dort unten, wo ich soviel erlebt und auch eine Weile auf der Sägerei und Zimmerei habe.
Prost!
Legte das Champagnerfläschlein in den kühlen See auf der Passhöhe, in den See, der sein Wasser bereits ins Mittelmeer entlässt. Genau am Mittag war ich oben, mittags am dreiundzwanzigsten Juli. Ich hatte einen Tages-Anzeiger mitgenommen, las darin, was mich interessierte, holte das Fläschchen und stiess an – ja mit mir, eigentlich mit niemandem sonst. Ein kühler Wind wehte über die Passhöhe, die Wanderer zogen sich warme Kleider an – ich hätte ewig bleiben können.
Dann der Abstieg. All die kleinen Pfade, engen Biegungen, um in kurzer Distanz wieder hinunter ins Maroztal zu kommen. Eine dichte, üppige Blumenpracht auf den Wiesen, die hier oben niemand mehr zu mähen oder zu weiden scheint. Auf alten Römerwegen zum Teil oder auf der mittelalterlichen Strasse von Castelmur. Die Biker litten, hatten hart auf den Pass hinaufstrampeln müssen und buckelten ihr Velo nun auf den steilen Pfaden hinunter. Sie schienen mir etwas frustriert zu sein, wahrscheinlich hatten sie gehofft, auf dem Sattel hinunterfahren zu können. Der Blick ins Maroztal erinnerte mich an Wanderungen mit Freunden, Verwandten, Begegnungen mit dem Hirt aus Soglio, der mir letztes Jahr erklärt hatte, warum der Wolf nicht zu den Schafen passe. Weil er sie tötet. Zwei Wochen später haben sie den Wolf erschossen. Das Val da Duan lag plötzlich wieder höher als mein Weg. Ich hätte dort hinübersteigen können, nochmals auf die Höhe des Septimerpasses und grad hinunter nach Montaccio. Das tat ich aber nicht, eilte hinunter nach Casaccia und wählte den Höhenweg.
Kühe und Rinder sind weniger scheu als in England oder in Frankreich. Sie gehen nicht aus dem Weg, wenn Wanderer kommen, erschrecken auch nicht über grosse Rucksäcke, ja, und sie lassen sich auch kraulen. Alle tragen sie hier, wie auch schon auf der Lenzerheide, auf der Stätzer Alp, die Glocken um den Hals. Ein vielstimmiges Gebimmel, ein Orchester ohne Takt, nur von der Gier, das Gras zu vertilgen, dirigiert. Ein Konzert mit seltsamer Harmonie, aber eine, die lange nachhallt.
Dem Höhenweg entlang
Der Höhenweg war beschwerlicher, als ich ihn in Erinnerung hatte. Bis Rotticcio, diesem verträumten Weiler am Sonnenhang, locker und zügig gangbar – doch dann wird der Pfad wieder steil, steinig, abschüssig und beschwerlich. Zum ersten Mal kam ich an dieser kleinen Beiz bei Durbeggia zu einer Zeit vorbei, da sie offen war. Trank den Eistee und zog weiter, hin zum Platz, wo es nach Planac hochging, weiter auf dem Weg nach Parlongh. Unten sah ich mal kurz die Dächer von Montaccio, musste aber noch einen Umweg gehen, die vierhundert Meter Höhenunterschied bewältigen. Auf dem Bank vor dem Dörfchen trank ich mein letztes Wasser, schaute den Kühen zu, wie sie miteinander balgten, den Ziegen, die neugierig auf einem Ladewagen herumkletterten.
Und dann das Haus, wo Lella – die hier im Tal aufgewachsen ist, jetzt aber in Basel wohnt – und Daniel mit ihren Kindern in den Ferien weilen. Die beiden werkeln herum, begrüssen mich herzlich, wir plaudern, unauffällig stellt mir Lella ein kühles Bier hin, macht ein Bild vom Gast, wirft meine Kleider in die Maschine und Dani rüstet den Grill. Lavinia und Oriana, die Töchter, kommen zum Znacht, mit ihrer Cousine Vanessa, zurückhaltend und neugierig zugleich, tauen langsam auf, turnen an mir herum, Oriana drückt mir plötzlich einen heftigen Kuss auf die Wange, und dann kommt auch die Nonna. Wir plaudern, schauen in die Berge, jeder Baum, jeder Fels bis weit hinauf in klarstem Abendlicht. Es ist schön hier.
(Montaccio, 23. Juli 2002)