Auf Passagier-Entzug

Zum ersten Mal seit Jahren transportierte die Bahn weniger Reisende. Kein Wunder. Denn jetzt bekommen schon Touristen die härtere Gangart zu spüren.

Die SBB schlägt eine härtere Gangart ein und verliert jetzt – erstmals seit Jahren – Kunden. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Zum ersten Mal seit Jahren transportierte die Bahn weniger Reisende. Kein Wunder. Denn jetzt bekommen schon Touristen die härtere Gangart zu spüren.

Kein Problem», dachte sich Imogen Foulkes, als sie am Morgen vor dem defekten Billettautomaten stand, «ich habe ja ein Smartphone.» Damit löste die Journalistin der BBC ein Billett für ihre Fahrt nach Genf. Im Zug präsentierte sie das E-Ticket der Kondukteurin. Doch diese war alles andere als begeistert. Ihr Billett sei nicht gültig, erklärte sie der englischen Reporterin. Die Zahlungsbestätigung ihrer Kreditkarte sei erst nach fahrplanmässiger Abfahrt des Zugs eingetroffen. Das sei zu spät und ihr Billett damit ungültig. Macht einen Zuschlag von 90 Franken und das Billett wird auch noch einmal fällig: total 190 Franken.

Tatsächlich steht im allgemeinen Personentarif Punkt 41.03: «Die Kundschaft muss vor Antritt der Reise, der fahrplanmässigen Abfahrt des Zuges, im Besitz des E-Tickets sein.» Andernfalls gilt man als «Reisender ohne gültigen Fahrausweis», also als Schwarzfahrer.

Kein Wunder warnte die BBC-Journalistin ihre Landsleute: Jeden Tag büsse die Schweizer Bahn 750 Reisende wie sie. Das macht pro Monat einen Zustupf von rund zwei Millionen Franken. Die Leserinnen und Leser verbreiteten die schlechte Nachricht wie ein Feuer und empfahlen den Artikel via Twitter und Facebook über 4000 Mal. Ein schmerzhafter Kratzer am Image der pünktlichen Bahn mit dem freundlichen Personal.

Kunden steigen aufs Auto um

Doch auch im Inland gerät die Bahn mit ihrer härteren Gangart immer stärker unter Druck. Jetzt sind sogar erstmals seit Jahren die Passagierzahlen rückläufig. Im Fernverkehr verloren die SBB zwei Prozent.

SBB-CEO Andreas Meyer suchte an der Bilanzpressekonferenz die ­Ursachen dafür ausserhalb des Unternehmens: Das wirtschaftliche Umfeld sei schwierig. Die Nachfrage sinke. Es werde weniger gereist und auch der Tourismus sei rückläufig. Auf die stark gestiegenen Billett- und Abopreise hingegen habe die Bahn keine spürbaren Reaktionen registriert.

Das ist erstaunlich, zeigt doch ein Blick in die Statistik der Bahn selbst, dass sie im Jahr 2012 im Personenverkehr ein halbes Prozent Marktanteil verloren hat, und zwar an die Strasse.

Hohe Preise vertreiben Kunden

Damit bestätigt sich die Vermutung vieler Kommentatoren auf News­portalen: Preistreiberei weit über die Teuerung und der Abbau von Serviceleistungen seien die Ursache. Diese Einschätzung teilt auch der Verkehrs-Club der Schweiz: «Explodierende Preise und der Serviceabbau sorgen Hand in Hand dafür, dass wieder mehr Leute aufs Auto umsteigen», warnt Pressesprecher Gerhard Tubandt.

Für die Preisexplosion der letzten Jahre ist die Bahn allerdings nicht allein verantwortlich. So hat auch der Bund mit der Erhöhung der Preise für die Benutzung der Infrastruktur an der Preisspirale gedreht. Seit Doris Leuthard im Verkehrsdepartement das Zepter übernommen hat, heisst das Zauberwort Verursacherprinzip und nicht mehr Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene.

«Wer als Kunde einen Fehler macht, wird sofort bestraft»

Auch Kurt Schreiber, Präsident der Kundenorganisation Pro Bahn, kritisiert die härtere Gangart der Bahn gegenüber ihren Kunden: «Im Zweifel für den Kunden gilt nicht mehr.» Wer als Kunde einen Fehler mache, werde sofort bestraft und gebüsst. Schreiber fordert von der Bahn mehr Kulanz, gerade weil das Unternehmen gleichzeitig den Service abbaue.

Im Dezember 2011 stellten die SBB auch den Verkauf von Billetten in Schnellzügen ein. Peter Moor, ­Sprecher der Bahngewerkschaft SEV, erklärt, das Personal habe darum ­gekämpft, wenigstens einen kleinen Spielraum zu haben, denn die meisten Zugbegleiter sähen sich als Kundenbetreuer und nicht als Polizisten.

Doch treffen Kondukteure heute auf Reisende ohne Billett, müssen sie diese wie die BBC-Korrespondentin als Schwarzfahrer behandeln. Über Kulanz entscheidet nicht mehr der einzelne Zugbegleiter, sondern der Kundendienst. Im Fall der britischen Journalistin blieb auch dieser hart.

Die TagesWoche schrieb über eine Kundenfalle der Bahn und fragte die Mitglieder der Community nach Ihren Erfahrungen mit den SBB. Eine Auswahl finden Sie in den Boxen.

Beraubt und bestraft
Im ICE von Basel nach Olten wurde mir mein Portemonnaie gestohlen. Nicht nur all meine Kreditkarten und Ausweise waren weg, auch hatte ich kein Halbtax und Billett mehr. Bei der Billettkontrolle sollte ich nicht nur ein neues Billett, sondern auch noch eine Busse bezahlen.Später schickte mir die Bahn dann eine Rechnung über 105 Franken, die ich zusammen mit dem Polizeirapport retournierte. Die ach so kundenfreundliche Bahn antwortete, ihre Forderungen seien auch im Falle ­eines Diebstahls zu begleichen. Um mir weiteren Ärger und Kosten zu ersparen, blieb mir keine andere Wahl, als die Rechnung zu bezahlen.
Markus Locher

Beweise nützten nichts
«Systemfehler, SBB-Server nicht erreichbar», meldete mein Handy, als ich ein elektronisches Billett lösen wollte. Ich stieg trotzdem in die S-Bahn, weil ich nicht eine halbe Stunde auf den nächsten Zug warten wollte. Und ­natürlich kamen zwei Kontrolleure. Diese zeigten zwar Verständnis und rieten mir, mich an den Kundendienst zu wenden.Doch obwohl ich dank eines Screen­shots auf dem iPhone alles beweisen und nachweisen konnte, dass ich dieselbe Strecke Woche für Woche fahre und bisher mein Billett stets korrekt ­gelöst hatte, zeigte die Bahn Nullkulanz.Der Kundendienst schob mein Problem achselzuckend auf die Inkassostelle.
S.W., Name der Redaktion bekannt

Böses Erwachen
Wir waren zu einem Anlass in Luzern eingeladen und lösten ein Retour­billett, da wir noch am selben Abend zurück wollten. Es wurde allerdings spät. Der Gastgeber bot uns an, die Übernachtung im Hotel zu übernehmen. Das böse Erwachen kam dann im Zug am nächsten Morgen. Der Kondukteur behandelte uns in dem gut ­besetzten Zug vor den anderen Fahrgästen wie Schwarzfahrer oder totale Idioten. Wir mussten nochmals zwei Tickets Luzern–Basel bezahlen. Ich wollte der Bahn einen Brief schreiben und mich beschweren. Doch das liess ich bleiben, weil ich es leid war, die ­Sache nochmals aufzuwärmen. Die Wut ist dennoch geblieben.
Timm Delfs

Zu früh verrreist
Endlich Ferien! Mein Mann und ich ­freuten uns schon sehr lange darauf. Gebucht hatten wir einen Flug ab ­Zürich. Am Vortag entschieden wir uns spontan, schon in einem Hotel in ­Flughafennähe zu übernachten. Denn unser Flug ging früh am Morgen und wir wollten die Reise möglichst entspannt angehen.Doch im Zug nach Zürich erklärte uns der Kondukteur, dass unser Zugbillett erst morgen gültig sei. Wir erklärten, er könne das Billett ja entwerten, damit ganz sicher niemand damit Missbrauch treiben könnte. Der Zugbegleiter blieb hart und verlangte von uns noch einmal den vollen Preis. So begannen unsere Ferien mit einem Frust.
R.M., Name der Redaktion bekannt

Zu kulant für die Chefs
Auf dem Weg zur Arbeit in Bern hatte ich mein General-Abo daheim vergessen. Die Kondukteurin war kulant und stellte mir ein «Ausweis vergessen – ­Basel–Bern retour» für fünf Franken aus. Doch sie gestand mir, dass sie ­deshalb von ihrem Vorgesetzten wohl wieder getadelt werde. Und tatsächlich meinte der Kondukteur auf dem Rückweg, dass ich auf der Hinfahrt eine sehr nette Kondukteurin angetroffen hätte. Eigentlich hätte ich noch ein Rückfahr-Ticket lösen, später am Schalter vorweisen und zehn Franken zahlen müssen. Seit dreissig Jahren bin ich GA­-In­haberin. Mich ärgert, wenn ­kundenfreundliche Mitarbeitende für ihr ­Verhalten «bestraft» werden.
Christine Valentin

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 29.03.13

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