Jeder zweite Sozialhilfe-Empfänger schämt sich stark oder sehr stark, aufs Sozialamt zu gehen. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit (BFH). Die Menschen wollen zudem nicht nur Geld, sondern auch Beratung zur Bewältigung ihrer Probleme.
Vielen Menschen in finanziellen Notlagen fällt es äusserst schwer, zum Sozialamt zu gehen. „Die Nichtbezugsquote, also der Anteil der Haushalte, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, sie aber nicht beziehen, liegt laut Studien bei 40 bis 80 Prozent“, sagt Studienautorin Rosmarie Ruder von der BFH der Nachrichtenagentur sda.
Worin die Hürden liegen, Hilfe zu suchen, haben Ruder und Kollegen nun erstmals für die Schweiz untersucht. Sie haben 356 Personen telefonisch befragt, die in fünf Sozialdiensten in den Kantonen Bern, Zürich, Luzern und Graubünden einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt hatten.
Drei Viertel der Befragten bekunden demnach Mühe, sich beim Sozialdienst zu melden. Nachdem sie sich der finanziellen Notlage bewusst geworden sind, vergehen im Schnitt fast 100 Tage bis zur Kontaktaufnahme, manchmal sogar ein Jahr. Die Betroffenen versuchen zu sparen, am häufigsten bei Lebensmitteln und Anschaffungen, aber auch bei den Gesundheitsausgaben.
„Dies muss bedenklich stimmen, belegen doch verschiedene Studien, dass gesundheitliche Probleme bei Sozialhilfebezügern weit verbreitet sind“, schreibt die BFH. Je länger die Leute warteten, desto mehr Probleme und Schulden könnten sich anhäufen, und der Beratungs- und Betreuungsaufwand erhöhe sich.
„Unterste Schublade“
Wichtigster Grund für das lange Zögern ist Scham, wie die Befragung aufzeigt. Insgesamt 22 Prozent der Befragten schämten sich sehr stark und 29 Prozent stark, aufs Sozialamt zu gehen. Sie hatten den Aussagen „Es ist besser, wenn andere Leute nichts davon wissen“, „Ich schäme mich, vom Geld vom Sozialamt abhängig zu sein“ und „Es ist mir unangenehm, aufs Sozialamt zu gehen“ stark bis sehr stark zugestimmt.
Ein Befragter gab im Interview an, zu befürchten, er werde wegen des Sozialhilfebezugs „in die unterste Schublade“ gesteckt. Die Scham war in ländlichen Gebieten stärker als in den Grossstädten.
Melden sich die Betroffenen schliesslich beim Sozialdienst, erhoffen sie sich nicht nur Geld vom Sozialamt, sondern auch Beratung. „Sie wollen eine umfassende Lösung der Probleme, die zum Geldmangel geführt haben“, sagte Ruder. Gerade diese Hilfe könnten Sozialämter indes unter Zeit- und Personalmangel oft nicht genügend leisten.