Balkan- Blues «Odumiranje-Withering»

Alle reden vom Einwandern. Dabei fängt alles mit dem Auszuwandern an. Ein wuchtige erzähltes Stilleben aus dem Balkan. Über das Heimweh der Zuhausegebliebenen. Janko kommt von Belgrad nach Hause. Der Boden ist karg. Der Blick schweift in die phantastisch schöne Ferne. Es hat seit Monaten nicht mehr geregnet. Was hier Beine hatte, hat sich längst […]

Alle reden vom Einwandern. Dabei fängt alles mit dem Auszuwandern an. Ein wuchtige erzähltes Stilleben aus dem Balkan. Über das Heimweh der Zuhausegebliebenen.

Janko kommt von Belgrad nach Hause. Der Boden ist karg. Der Blick schweift in die phantastisch schöne Ferne. Es hat seit Monaten nicht mehr geregnet. Was hier Beine hatte, hat sich längst vom Acker gemacht.

Der Hund tanzt an der Kette. Die Mutter rennt ihm entgegen. Der Nachbar eilt herbei. Doch Janko kann nicht lachen. Er ist gekommen, um sich zu verabschieden: Er will weg aus dem serbischen Hinterland. Hinaus ins Zentrum Europas – in die Schweiz.

Janko ist nicht nach Hause gekommen. Er ist gekommen, das Land seiner Väter zu verkaufen. Das ist sein Weg, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. So beginnt Miloš Pušićs tieftrauriges Heimatlied.

Die schwere Last der Vergangenheit des Patriarchats

Pušićs «Odumiranje-Withering» schultert eine schwere Last. Die Wunden der Geschichte sind noch nicht vernarbt. Wer hier im Balkan-Hinterland zurückgeblieben ist, muss sich damit abfinden, dass die Vergangenheit sich nicht ändern lässt. Sie lässt sich auch nicht als Gegenwart verstehen. Doch mit dem Vergessenen kann hier keiner leicht in Zukunft blicken.

Die Menschen in «Odumiranje-Withering» sind durch Vorgeschichten an ihre Schollen gefesselt, wie die Figuren aus den Erzählungen Pirandellos. Das Patriarchat hat wohl ausgedient. Aber seine Diener leben weiter: Die Männer trinken und singen, die einen um zu Vergessen, die anderen, um sich zu erinnern.

Die Frauen sind vielleicht die wirklichen Opfer. Sie kennen noch keine eigene Sprache. Jankos Mutter redet zwar, aber er will sie nicht verstehen. Die Nachbarstochter sagt erst zum Schluss ein paar Worte, bevor sie weiter trinkt. Die Frau des Nachbarn verweigert jedes Wort. Und die Mutter des Nachbarn hat die Sprache verloren. Die Frauen sind die eigentlichen stummen Heldinnen dieses Films.

Das karge Land hat ihre Herzen nicht verarmen lassen. Es hat ihnen nur ihre Sprache geraubt. Dennoch halten sie an ihrer Welt fest: Jankos Rückkehr macht seine Mutter sogar optimistisch. Sie ermutigt den Nachbarn zu seiner Harmonika zu greifen. Er will die Taverne wieder eröffnen.

Präzise Erzählkraft

Mit der erzählerischen Genauigkeit der frühen Gebrüder Taviani  schafft «Withering» einen heiteren und tieftraurigen Abgesang auf das Kleinbauern-Patriarchat. Der zurückgekehrte Sohn Janko (Branislav Trifunovic) kennt noch nicht die ganze Geschichte des benachbarten Tavernenbesitzers. Ebenso wenig jene der Nachbarstochter. Er hat auch nicht mit der Hartnäckigkeit seiner Mutter gerechnet.

Dennoch beharrt Janko auf seinem Entschluss. Eher würde er das Grab seines Vaters verkaufen, als für das Land seiner Väter ein Leben in Lüge zu leben. Das Land ist kaum sein Eigentum, da hat er es samt dem Grab des Vaters bereits verkauft.

Ein Auswanderer-Drama

Der Regisseur Miloš Pušić erzählt die Fabel in ruhigen Bildern und lässt seine Schauspieler in der Tradition des realistischen Spielstils ihre Figuren entwickeln. In leicht lesbaren Handlungen verdichtet er den zunehmend packenden Sog dieses Auswanderer-Dramas. Unser Blick wird auf die Daheimgebliebenen gerichtet. Wir sehen mit den Augen des Auswanderers. Alles ist hier vertrocknet. Selbst das Kind, das im Bauch der Tochter des Nachbarn darauf wartet, in diese Welt geboren zu werden, scheint schon vor seiner Geburt vor dieser steinigen kapitulieren zu müssen.

Präzise Vivisektion des Patriarchats

So singen die daheimgebliebenen Männer zum Schluss in einem Zuhause, das ihnen fremd geworden ist. Wären da nicht die Tiere, die unerbittliche Hitze, der Alkohol und der Boden unter ihren Füssen, der sie nicht nährt, aber auch nicht wegträgt, sie würden vielleicht wegrennen wollen. Aber, wie sagte es der Nachbar: «Ich trinke nicht, um zu vergessen. Ich trinke, um mich zu erinnern.» Das beschreibt das Heimweh der Daheimgebliebenen. In der letzten Stophe dieses Liedes, das von Dejan Kostić Mocart vertont wurde, torkelt die Schwangere mit der Zigarette im Mund durch die Küche. Die Mutter, grossartig gespielt von Dara Dzokic, sitzt draussen am Grab und spricht mit ihrem Vater.

«Odumiranje» heisst die Austrocknung. Doch am Ende ist das Leben stärker. Während Zuhause die Kuh im Stall kalbt und gleichmütig ihr Kalb leckt, kommt der Auswanderer im aufrechten Gang in seiner neuen Welt an. Am Zoll nimmt man  Janko das letzte ab, was ihn mit seiner Heimat noch verbindet – die Flasche Selbstgebrannten des Landvermessers. Dann steht Janko auf Gleis acht im Hauptbahnhof Zürich. In einer Menschenmasse, die zur Arbeit eilt, steht Janko, eine jener Vaterfiguren, wie sie die Secondos aus dem Balkan kennen werden. Miloš Pušić ist gleich mit seinem Erstling eine tief in der realistischen Filmkunst verwurzelte Novelle aus einem europäischen Randgebiet gelungen.

Ein Lied in fünf Strophen über das Auswandern

Alle reden vom Einwandern. Dabei braucht erst einmal das Auswandern Mut. Diese wehmütige Balkan-Lied gibt all jenen Menschen ein Gesicht, die mit diesem Mut von dort zu uns gekommen sind.

 

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