Basel wird immer reicher und zählt immer mehr Arme

Basel-Stadt gedeiht wirtschaftlich prächtig. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Sozialhilfebezüger stetig an. Der Basler Wirtschafts- und Sozialdirektor Christoph Brutschin sieht keine Anzeichen für eine Trendwende.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Ende November stellte die Finanzkommission des Grossen Rats ihren Bericht zum Basler Budget 2018 vor. Sie kann sich über die anhaltend prächtige Finanzlage des Kantons freuen – 2018 ist ein Überschuss von 136 Millionen Franken budgetiert. Kommissionspräsident Patrick Hafner (SVP) wertet dies als «Zeichen, dass der Kanton Basel-Stadt sehr attraktiv ist».

Basel-Stadt ist auf dem besten Weg, vom A-Kanton (A für Arme, Arbeitslose, Ausgesteuerte) zum AAA-Kanton – gemeint ist das für den Finanzmarkt ausschlaggebende Spitzenrating der internationalen Agentur Standard & Poor’s.

Die Statistik bestätigt Vorurteile

Doch das rosige Bild täuscht. Kommissionsmitglied Jürg Stöcklin (Grüne) verwies an der Medienkonferenz auf das «ungebremste Wachstum» der Sozialkosten. Im Budget 2018 sind hier 697 Millionen Franken aufgeführt. In den letzten fünf Jahren sind sie um 20 Prozent angewachsen. «Und trotz der wirtschaftlich ausgezeichneten Lage ist die Sozialhilfequote in der Bevölkerung im Jahr 2016 von 6,3 auf 6,7 Prozent angestiegen», sagte Stöcklin. Auch die Kurve der durchschnittlichen Dauer der Sozialhilfeabhängigkeit zeigt nach oben: von 45 Monaten im Jahr 2011 auf 52 Monate im Jahr 2016.

Schaut man, wo Menschen wohnen, die Sozialhilfe beziehen, werden Vorurteile bestätigt: Am höchsten liegt die Quote in Kleinhüningen (14,3 Prozent) und im Klybeckquartier (13,6 Prozent). Ganz auf der anderen Seite befinden sich Bettingen (1,3 Prozent) und das Bruderholz (1,6 Prozent).

Christoph Brutschin ist als Vorsteher des Departements für Wirtschaft, Soziales und Umwelt (WSU) zuständig für das Sozialwesen des Kantons. Er empfängt die TagesWoche in seinem Departementssitz am Rheinsprung zum Gespräch. Der Ort, zwei zusammenhängende prachtvolle Stadtpaläste aus der Barockzeit, ist symbolträchtig für die Finanzlage des Kantons. Das Sozialamt ist ebenso sinnbildlich auf der anderen Rheinseite in einem wesentlich hässlicheren Neubau angesiedelt.

«Seit ich im Amt bin (seit 2009, Anm. d. Red.) gab es in der Sozialhilfe nur eine Bewegung, nämlich die nach oben», stellt Brutschin nüchtern fest. Das Bevölkerungswachstum der letzten Jahre vermochte die Sozialhilfequote zwar einige Jahre halbwegs stabil zu halten, 2016 reichte das aber nicht mehr aus.

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Ungebremstes Wachstum ist nicht nur bei der Sozialhilfe Alltag. Jede Erhöhung der Krankenkassenprämien schlägt sich eins zu eins in den Sozialausgaben nieder. Mittlerweile bezieht weit über ein Viertel der Basler Bevölkerung Prämienbeiträge vom Kanton. Brutschin weiss also heute bereits, wie stark die Beiträge im nächsten Jahr anwachsen werden.

Nicht so hoch ist die Quote bei den Familienmietzinsbeiträgen. Die Summe musste aber in den vergangenen zehn Jahren massiv erhöht werden: von 750’000 auf über 10 Millionen Franken. 2,2 Prozent der Basler Haushalte bezogen 2016 Mietzinsbeiträge – das sind fast doppelt so viele wie noch im Jahr 2011.

Die Einkommensschere öffnet sich

Auf der anderen Seite wuchsen die Einnahmen aus den direkten Steuern natürlicher Personen von 2006 bis 2016 um 400 Millionen auf 1,87 Milliarden Franken. Dafür massgebend waren vor allem die Grossverdiener. Das durchschnittliche Reineinkommen im obersten Fünftel stieg von 2004 bis 2014 von 150’500 auf 184’561 Franken deutlich an. Beim untersten Fünftel zeigt die Kurve indes ebenso steil nach unten: Hier sank das Jahres-Reineinkommen von 8116 auf 6709 Franken, wie das Statistische Amt ausweist.

Die Schere öffnet sich: Während gesamtschweizerisch die oberen Einkommen wachsen und sich das Mittelfeld hält, ist die Tendenz bei den unteren Einkommen sinkend.

Das zeigt, dass die Einkommensschere in Basel bereits weit geöffnet ist. Brutschin bestätigt diese Sichtweise: «Das ist gesamtschweizerisch so: Die oberen Einkommen wachsen stark, das Mittelfeld hält sich mehr oder weniger und bei den tieferen Einkommen ist die Tendenz uneinheitlich.»

Und weil Basel mit der hochspezialisierten Life-Sciences-Industrie auch hier etwas anders tickt, sind die Unterschiede besonders gross. Brutschin sagt: »Unsere Industrie benötigt Menschen mit hohen Qualifikationen – und weil die selten sind, sind die Löhne hoch.» Dieser Umstand generiert auf der anderen Seite Verlierer. Brutschin spricht von einem «offensichtlich wachsenden Missverhältnis zwischen den beruflichen Qualifikationen und den Ansprüchen der Wirtschaft».

Bereits eine Stabilisierung der Sozialhilfequote würde der Kanton bereits als Erfolg verbuchen.

Dieses Missverhältnis spült immer mehr Menschen in die Sozialhilfe, die laut Brutschin bereits zu einer Art «Arbeitslosenhilfe zwei» geworden ist:  «Der Anteil der Menschen, die zum ersten Mal zu uns an die Klybeckstrasse kommen (Standort der Sozialhilfe, Anm. d. Red.) und sagen, ‹ich habe keine Arbeit mehr›, nimmt zu», sagt er. «Früher war die Sozialhilfe eher als Auffangbecken für die Wechselfälle des Lebens da – Suchtmittelproblematik, persönliche Abstürze nach privaten und beruflichen Problemen. Das hat sich geändert.»

Ein detaillierter Blick auf die Sozialhilfestatistik bestätigt diese Tendenz. Am stärksten steigt die Kurve bei den 51- bis 65-Jährigen, die offensichtlich nach einem Jobverlust nur noch schwer in den Arbeitsmarkt zurückfinden. Allerdings bewegt sich die Kurve hier noch auf einem niedrigen Niveau. Anders sieht es bei den 18- bis 25-Jährigen aus: Hier liegt die Sozialhilfequote bei 10,2 Prozent. Hier bestätigt sich die steigende Kurve der «Schulabgänger ohne Anschlusslösung»: 2007 fielen noch 3,4 Prozent in diese Kategorie, 2017 sind es bereits 5,8 Prozent.

Der Kanton sieht wenige Möglichkeiten, den Anstieg der Sozialhilfeausgaben zu stoppen.«Wenn Sie mir ein Patentrezept hätten, wie es anders ginge, wäre ich sehr froh, wenn Sie es mir verraten würden», sagt Brutschin. Bereits eine Stabilisierung der Quote würde er als Erfolg verbuchen. Bei den schlecht qualifizierten Langzeitarbeitslosen wäre der Kanton auf die Hilfe der Wirtschaft angewiesen. Gegen die ansteigenden Krankenkassenprämien kann der Kanton alleine kaum etwas bewirken.

Steigende Fixkosten bringen immer mehr sozial und beruflich eingegliederte Menschen an den Rand des Existenzminimums.

Bleiben die Kosten für das Wohnen, die ebenfalls hoch sind und stetig ansteigen. So sind die Mietzinsen für eine Dreizimmerwohnung in den vergangenen zehn Jahren im Durchschnitt um 15 Prozent auf 1182 Franken im Jahr 2016 angestiegen (rechnet man ohne Genossenschafts-Wohnungen, dann sind es 1263 Franken). Das ist der durchschnittliche Preis von vermieteten Wohnungen. Bei Leerwohnungen liegt er mit 1705 Franken wesentlich höher.

Die steigenden Fixkosten bringen auch immer mehr sozial und beruflich eingegliederte Menschen an den Rand des Existenzminimums. Zahlen über diese sogenannten Working Poor weist der Kanton Basel-Stadt aber keine aus. Das Bundesamt für Statistik stellt fest, dass 2015 gesamtschweizerisch «sieben Prozent der ständigen Wohnbevölkerung in Privathaushalten von Einkommensarmut betroffen» ist.

«Zu den am stärksten betroffenen Gruppen zählten Personen, die alleine oder in Einelternhaushalten mit minderjährigen Kindern lebten», schreiben die Statistiker des Bundes weiter. Und das sind in der grossen Mehrzahl natürlich Frauen, wie ein Bericht der Städteinitiative Sozialpolitik in der Schweiz auswies.

Es braucht die Umverteilung

Der Kanton Basel-Stadt hofft, diese Working Poor mit Prämienverbilligungen und Mietzinsbeiträgen möglichst lange von der Sozialhilfe fernhalten zu können.

Wären bezahlbare Mietpreise nicht der bessere Weg als staatliche Beiträge? Natürlich, sagt Brutschin. Aber der Kanton könne nur über das Mietrecht, das extreme Auswüchse unterbindet, Einfluss auf private Vermieter nehmen. Und nicht immer erweise sich ein Umzug in eine günstige kantonale Siedlung – wenn es diese denn gäbe – als bester Weg. «In vielen Fällen kann es besser sein, wenn wir jemand in seinem gewohnten Umfeld belassen können», sagt Brutschin.

Auch wenn Brutschin die Objekthilfe – also die Bereitstellung günstiger Wohnungen – wieder verstärken möchte, bleibt das Hauptaugenmerk in der Sozialpolitik auf der Umverteilung, also «oben etwas wegnehmen und unten etwas dazugeben», wie sich Brutschin ausdrückt: «Es ist ein gesellschaftlicher Anspruch, denjenigen zu helfen, denen es schlecht geht, damit sie nicht ins Bodenlose fallen», betont er. In Basel dafür Verständnis zu finden, sei zum Glück weiterhin einfacher als anderswo.

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