Bauklötzchen, 11. Juni 2002

Der Baustil im mittleren Loire-Tal mutet an, als ob man durch ein Lego-Land wandere. Irgendwoher müssen diese Steinklötze gekommen sein, aus denen die Häuser gebaut wird. Was hat das mit Champignons zu tun?

Künstliche Felshöhlen, aus denen die Bewohner des Loire-Tals das Baumaterial für ihre Häuser geholt haben. (Bild: Urs Buess)

Der Baustil im mittleren Loire-Tal mutet an, als ob man durch ein Lego-Land wandere. Irgendwoher müssen diese Steinklötze gekommen sein, aus denen die Häuser gebaut wird. Was hat das mit Champignons zu tun?

Ein strahlender Morgen, eine aufgeregte Belegschaft im Restaurant. Fussball-Weltmeister Frankreich musste in diesem letzten Qualifikationsspiel gegen die Dänen mit zwei Toren Unterschied gewinnen, um die sofortige, schmähliche Heimreise zu verhindern. Alle hofften, bangten mit den elf Spielern, die während der Nationalhymne ihre Entschlossenheit zeigten, alles zu geben, indem sie sich vor Spielbeginn heftig umfassten. Und sie spielten schön, aber die Dänen konterten geschickt und machten die Tore. Die Leute litten wirklich sehr, ich mochte das nicht ansehen und packte während der zweiten Halbzeit meinen Rucksack, spazierte durch die totenstille Idylle in Saumur und dachte, ich würde dieses wunderschöne Städtchen gern wieder mal besuchen.

 

Alle Häuser, und auch jene, die die Strasse Loire-aufwärts säumen, sind aus diesen hell-gelblichen Kalksandsteinen aufgebaut, und es erinnert an die Kinderjahre, als wir aus Bauklötzchen Häuschen bauten und ich vermute gar, der Erfinder der Lego-Steine hatte seine Entdeckung hier im Loire-Tal gemacht.

Dörrobst statt Wein

Es wird touristisch hier, öno-touristisch. Cave an Cave, die alle zu besuchen sind, Degustationen an jeder Strassenecke. Zwischendurch ein Museum übers Äpfelklopfen – irgendwann im letzten Jahrhundert sind die Reben an einer Krankheit zugrunde gegangen. Da haben sich die findigen Leute hier aufs Äpfel-Dörren spezialisiert und die halbe Welt, jedenfalls weite Teile Frankreichs, mit getrockneten Apfelschnitzen beliefert.

Nun wächst aber wieder der Wein und zudem, bei Montsoreau, eine Plantage von Champignons. Hat mich irgendwie fasziniert, weil ich schon gehört habe, dass man Champignons in ehemaligen Bunkern züchtet. Gab es hier Bunker? Von wem gegen wen gebaut?

Es gibt keine Bunker. Aber irgendwoher müssen die Leute die Kalksandstein-Quader herhaben, mit denen sie ihre Bauklötzchen-Häuser gebaut haben. Und diese Quader holten sie aus dem Berg. Achthundert Kilometer Höhlen sollen die Bergbauer im Lauf der Jahrhunderte in die Hänge der Loire gehauen haben. Die Champignons, die in diesen herausgehauenen Gängen im Berg gezüchtet werden, wachsen wunderbar heran. Aber eigentlich ist das einfach eine Plantage, eine riesige zwar – doch wirklich sehenswert und eindrücklich ist das riesiege Bergwerk, das hier zu besichtigen ist.

Nach der Flut

Der Rest des Tages: Marschieren. In Candes-St-Martin über die Brücke der Vienne und dann Kilometer für Kilometer flussaufwärts, topfeben, an Feldern vorbei, aber vor allem an grünem Busch- und Gräserwerk. Bisweilen überwachsene Uferhäuschen – wie Mahnmale standen sie da. Seit Jahren offenbar nicht mehr benutzt, Gartenmöbel lagen hintübergekehrt und rostend darin, Scherben von Bierflaschen verstreut. Als ob Nachtbuben getobt hätten. Aber wahrscheinlich hat das letzte Hochwasser, das 1999 das ganze Mündungsdreieck meterhoch überflutete, den Besitzern den Verleider gebracht. Sie scheinen nichts mehr wissen zu wollen von ihren Wochenendhäuschen. Nun modert alles vor sich hin und in der kurzen Zeit von drei Jahren erobert die Natur halt alles zurück: Wucherndes Grün, ein einsamer Schimmel, der mal an einen rostigen Hag herangaloppiert und erschreckt wieder davon rast, ein paar Fischer, die betulich fliessende Vienne. Sonst nichts.

Und wie eine Ouvertüre die Biegung des Flussweges kurz vor Chinon. Zweihundert Meter und plötzlich stehe ich mitten in Rebbergen, von alten Mauern umhagt. Winzer schauen zum Rechten, Vögel pfeifen und nach einer Steigung öffnet sich das Städtchen. Wieder diese Bauklötze, wieder diese matt gelblichen Häuser, auch wenn einzelne verlassen dastehen und die blinden Fenster zeigen, dass hier niemand mehr wohnt. Doch andere lassen einen Geschichten erdenken, ein malerisches Städtchen. Und irgendwie entfernt von dieser Welt. Hier sitzen Leute auf den Plätzen, plaudernd wie andernorts flussabwärts kaum, ein paar Velo-Touristen, die sich Abenteuer erzählen: Ein Hotel unter vielen, das leer steht und wenigstens mich als Gast hat – hier war mal Wohlstand und vielleicht auch Bedeutung. Ein paar Halbwüchsige spotten über ihr Fussball-Team.

(Chinon, 11. Juni 2002)

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