Berlinale: Auf der Suche nach dem verlorenen Körper

Fake! Alles Fake! Ruft Irvin Rodenfeld in «American Hustle» und meint damit den Rembrandt im Museum. Tatsächlich ist die Täuschung ein starkes Thema der diesjährigen Berlinale: Erotisch, sinnlich, sexuell und finanziell. Frauen zeigen für Karrieren Körpereinsatz. Die Regisseurin Tatjana Turanskyi schickt Top Girls in den Wald Der Goldene Bär ging dieses Jahr nach China, an […]

Fake! Alles Fake! Ruft Irvin Rodenfeld in «American Hustle» und meint damit den Rembrandt im Museum. Tatsächlich ist die Täuschung ein starkes Thema der diesjährigen Berlinale: Erotisch, sinnlich, sexuell und finanziell.

Frauen zeigen für Karrieren Körpereinsatz. Die Regisseurin Tatjana Turanskyi schickt Top Girls in den Wald

Der Goldene Bär ging dieses Jahr nach China, an die Produzenten Bai Ri Yan Huo für «Black Coal, Thin Ice» von Diao Yinan. Der Film hat als Geheimtipp aber sein Publikum noch nicht gefunden: Als Publikumsmagneten ragten bei der Berlinale aus den vielen Filmen drei heraus: Der Film mit dem höchsten Promifaktor war unbestritten «American Hustle» von David O. Russell, der Film über Anlagebetrüger und Spezialisten des Fake. Gefolgt vom Film mit dem grössten Glamour-Vorschuss, «The Grand Budapest Hotel», über ein Traumhotel in dem viel vorgetäsucht wird, von Wes Anderson. Über beiden schwebte der Film mit dem höchsten herbeigeschriebenen Skandalfaktor: «Nymphomaniac» von Lars von Trier, über die Ficktionen einer Nymphomanin.

Alle drei haben die Erwartungen erfüllt: Alle beschäftigen sich mit Täuschungen, mit filmischem Fake, finanziellem Fake, und erotischem Fake. Ausgerechnet der Wahrheitsfanatiker Lars von Trier mogelte am heftigsten.  

Der Skandal als Werbeträger

Lars von Triers Film «Nymphomaniac» eilte die Kunde schon weit voraus – er sei pornografisch. Die Medien – gerne Kunden solcher Kunde – bauschten den Film zu einer Skandalorgie auf. Lars von Trier wollte man gerne alles zutrauen, seit er in Cannes «Hitler verstanden haben wollte».  Doch, nach zweieinhalb Stunden Première in Berlin stand fest: Trier ist ein Lieblingskind medialer Kunstaufregung. Sein Film ist über lange Strecken eher verstaubt, sein Drehbuch ist entzückend geistreich und die pornografischen Teile sind teilweise kenntlich von professionellen Pornodarstellerinnen verantwortet.

Das ist rasch einmal hinreissend (und ebenso langgezogen wie bei seinem Meister), wie von Trier sich dabei mit der Methode von Marcel Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt. Mit teilweisen Originalzitaten versetzt macht er sich an die Rekonstuktion der Erinnerungen seiner Hauptfigur, dargestellt von der bezaubernden Charlotte Ginsbourg. Sie zeigt nicht einen Quadratzentimeter Haut und ist doch in jeder Sekunde erotischer als alle Körperdoubles. Dabei mäandert Lars von Trier in geistreichen Dialogen um das Phänomen der Liebe, vor allem aber um eins: Ob der Körper und sein Sexus mit dem Gefühl und seinem Eros überhaupt eine Einheit bilden können im Fieberzustand der Liebe.

 

Auf der Suche nach dem verlorenen Körper

Seine Hauptfigur ist nämlich weniger das, was sie von sich berichtet, eine Nymphomanin, als viel mehr ein Wesen, welches sein sexuelles Verlangen mit übermässiger sexueller Betätigung zu ersticken versucht. Mit dieser Lustaustreibung durch Lust-Thematik ist Lars von Trier einmal auf der Spur des Leitthemas einer ganzen Reihe von Filmen, die sich auf die «Suche nach dem verlorenen Körper» des Menschen gemacht haben. Die sensiblen Verliererinnen des eignen Körpers sind dabei vor allem die Frauen. Sei es in der Männerphantasie des Lars von Trier oder in den Bestandesaufnahmen weiblicher Regisseurinnen.

Der Körper nämlich scheint gerade bei den Frauen nach einem neuen Bewusstsein zu verlangen: Frauen verbinden nicht nur das Diktat der Schönheit mit dem Diktat zu einer neuen Körperlichkeit. Sie scheinen es geradezu zu akzeptieren, dass immer neue Areale des Körpers dem Schönheitswahn ausgesetzt sind. Die letzte Bastion ist ausgerechnet die Vagina, die auch nach Courbets «Origine du Monde» noch fast einen Heiligenstatus im Versteckten innehatte:

 

In «Vulva 3.0» gehen Ulrike Zimmermann und Claudia Richarz in einer umfassenden Dokumentation nicht nur den Bildnissen weiblicher Geschlechtsorgane nach, sondern auch den Aufklärungslehrmitteln im Sexualunterricht, um die Emanzipation weiblichen Selbstbewusstseins zu skizzieren.

Sie werfen ausserdem ausführlich ein Auge auf den Schönheitswahn, der neuerdings auch das richtige Schamlippenspiel vorschreiben will. Frauen lassen sich ihre Vagina «richten», wie es schon mit den Fältchen unter den Augen Gang und Gäbe ist. Sie entwickeln dabei nicht nur eine neue, selbstbewusste Schamlosigkeit, sondern auch einen fast lustvoller Zwang zum vorschriftsgemässen Aussehen untenrum.

Der Körper und seine Erlebniswelten

Von einer ganz anderen Seite nähert sich die Regisseurin Anja Marquardt unserem Verhältnis zum Körper. Sie macht sich in ihrem Spielfilm «She’s lost control» mit einer Sexualttherapeutin auf die Suche nach der Grenze von Sexus und Eros: Ronah ist eine Sexarbeiterin, die  – flankierend zu einer Psychotherapie – Männern ihre Angst vor Berührungen nehmen soll. Ihre Behandlung ist denkbar einfach. Sie vermittelt Berührungen, die die Grenz des Erotischen, ja, explizit Sexuellen ausweiten, nie aber zu Verliebtheit führen dürfen. So will es der Patienten-Kontrakt, den sie mit ihren Kunden ausfüllt.

Der sexuelle Kontrollverlust ist die letzte Bedrohung unserer rationalen Welt

Die Master-Studentin der Verhaltensforschung, Ronah,  macht als Assistentin des Therapeuten Berührungsstunden. Das kann schon auch zu sexuellen Verbindungen führen. Davon sind aber ihre Patienten erst einmal weit entfernt. Die Therapeutin gehört auch nicht zu jenen Frauen, um die sich Modelagenturen reissen. Sie schafft vielmehr eine zarte, rührende Gegenwelt.

Diese Surogat-Partnerin hat gleich mit mehreren Männern erotische Beziehungen, ohne Gefühlsaustausch. Sie bringt ihren Kunden bei, wie man eine Hand berührt, sich in die Augen schaut, es aushält, am Rücken gestreichelt zu werden, ja, gar am Geschlechtssteil. Die Männer die sie besuchen sind in Therapie und nehmen diese Erweiterungsform gegen Bezahlung mit: Männer, die Sex vielleicht im Kopf haben, definitiv aber nicht im Körper aushalten, sind ihre Kunden.

Wo liegt die körperliche Grenze von nahe und zu nahe? «She’s lost control» setzt neue Grenzen.

Die Entgrenzung von Sexus und Emotion

Ronah ist dabei zu Beginn durchaus ausgeglichen: Wir sind mehrfach Zeuge von Übungen der «Berührerin», die eine interessante Gegenwelt zum Gewohnten Film-Muster bieten. Hier wird jede erotische Nähe erklärt, für einmal Sexualität gelehrt, als lebensstiftendes Heilmittel. Ronah wird dafür bezahlt, Männern zur Verfügung zu sein, um sie für andere Frauen verfügbar zu machen. Das schafft die genaue Ergänzung zum Diskurs von Lars von Trier, mit demselben Ziel: Hier will der Vertrag von Patient und Thearpeutin, dass beide die Begegnung nicht zu einem ganzheitlichen Ereignis werden lassen: Es soll die pure Erotik bleiben, denn um die geht es, um die Wiederherstellung der Genussfähigkeit in der Sexualität.

Doch dann fängt die äusser Welt von Ronah an, Risse zu zeigen. Ein Rohrbruch in der Dusche in der eigenen Wohnung bringt sie an den Rand des finanziellen Ruins. Immer häufiger beobachtet sie ein Kanarienvögelpaar, sieht einsame Tauben und wird auch immer einsamer, obwohl sie immer mehr therapeutische Bezieungen gleichzeitig lebt: Der Rohrbruch findet schliesslich auch in der therapeutischen Beziehung statt: Die Frau tut das, was seit Jung und Freud jedem therapeutischen Handeln die Klarsicht raubt. Sie verliebt sich. Sie bricht den Kontrakt. Sie entgrenzt den Sexus und die Emotion.

Anja Marquardt schildert eine sanfte, sensible, erotische Entwicklung am Rande der Sprachlosigkeit. Bei ihr sind sowohl Erotik, wie Sexualität, wie Körperlichkeit von einem viel stärkeren Verlangen begleitet – dem nach Intimität.

Der Körper als Kapital in der Ich-AG

Wenig intim geht es hingegen in den pikanten Rollenspielen von «Top Girl oder Déformation Professionelle» von Tatjana Turanskyi zu. Das «älteste Gewerbe der Welt» wird hier durchaus beim Wort genommen, und mit den neuen Gesetzen des globalen Marketings verknüpft: Als Geschäftsidee. Das sind nicht einfach nur Kunststudentinnen im Nebenverdienst, die die schönste Nebensache zum Haupteinkommen machen. Das sind auch männliche Konsumenten, die alle ihren eignen Konsumstil pflegen und gegen die verschwindende Erotik der Sexualität mit immer mehr Sexualisierung angehen: Sex, so könnte man es zuspitzen, ist ein seelenloses Geschäft. Als solches findet er immer mehr seinen Weg in die Handels- und Warenhäuser der Grossraumbüroetagen. Die Erotik hingegen, die Triebkraft der Liebe, geht dabei verloren: Sie überlebt noch als Geschäftsidee.  Als Verkaufsförderung und Karriereschubkraft.

In «Top Girl» mischen sich bunte Clichés mit hübschen, performativen Ideen. Letzlich ist «Top Girl» eher eine gefilmte Performance. Mit all dem Laienhaften, das Performance eben eigen ist. Einen vertieften Beitrag über  das Verhältnis von Käufer und Verkäuferin in Liebesdingen leistet der Film allerdings nicht.

Körpereinsatz auf der Karriereleiter in «Top Girl oder Déformation Professionelle»

Die blinde Liebe der Blinden

Ausgerechnet ein Wettbewerbs-Film über ein Blinden-Kollektiv trägt einen weiteren überraschenden Beitrag zur Aesthetik der Liebe bei: Der chinesische Regisseur Lou Ye sorgt mit Blinden und professionellen Schauspielern, die Blinde spielen, für eine ästhetische Aufregung.

Zu Beginn wird man in «Blind Massage» erst einmal von überraschend vielen unstrukturierten Bildern und Charakteren überflutet. Als wollte Lou Ye mit seinen Bildern gar keine dramaturgische Ordnung herstellen. Die Geschichte des erblindeten Ma wird uns von einem Sprecher erzählt. Ma ist vor Kurzem erblindet. Ma wird jetzt Masseur. Ma tritt dem Blinden-Kollektiv bei, dass einen Massagesalon betreibt, eine Art «Blinde Kuh»-Restaurant.

Silberner Bär in Berlin für die Kamera in  «Tui Na» («Blind Massage») von Lou Ye 

Das Blinden Kollektiv bietet aber weit mehr als nur ein Wellness-Angebot. Es ist auch ein sozialer Austauschort. Für uns ist es vor allem eine ästhetische Herausforderung als filmische Zuschauer: Erst langsam verstehen wir, was die Bilderflut will: Sie führt uns die Wirklichkeit vor Augen, wie sie den Blinden vor Ohren geführt wird. Jedes Bild gleich laut. Jedes Geräusch erst einmal ungeordnet hell.

Als wir uns endlich an  die «Blindenfilm»-Sprache gewöhnt haben, verliebt sich Ma. Ausgerechnet in eine wunderschöne Prostituierte. Aber, was ist nun Schönheit für einen Blinden? Was ist die körperliche Begegnung mit der Schönheit für Menschen, die nicht das Auge als ein Fenster der  Seele kennen?

Endlich Voyeur sein dürfen nur mit den Ohren

«Tui Na» gelingt endlich etwas, was nur selten einem Film über Prostitution gelingt: Er muss keine Bilder von aufreizenden Mädchenhintern zeigen, oder repetitive Sexualgymnastik oder gar Gewalt gegen die Sexworkerin. Er kann zu einer ganz neue Bilderwelt der sexuellen Begegnung einladen. «Tui Na» liefert nicht nur einen eigenwilligen Look, er führt auch an neue Grenzen der Wahrnehmung. Tatsächlich gelingt es ihm, nicht nur die Geschichte über die Blinden zu erzählen, sondern uns auch ein Formerlebnis zu vermitteln, dass uns dem sinnlichen Erleben der Blinden neuartig näher bringt.

Es mag ein Zufall der Auswahl sein, oder ein roter Faden: Lars von Trier hat ungewollt das grosse Thema geliefert, und die altmodischste Antwort gegeben. In seinem Erzählfilm werden die Liebeszenen am explizitesten bebildert, aber auch am deutlichsten gefälscht: Die Pornoszenen sind eingefügt. Die Pornoakte nur Staffage. Der Sex bleibt eine Form der Sexualvertreibung. Wir schauen nicht weg. Aber wir schauen auch nicht hin. Wir wissen einfach, dass das nicht echt ist. Wie jede Pornografie. Und sind wieder mitten im Thema. Wir haben unsere Körper verloren.

Dorthin, wo allles Wasser fliesst – nach unten. Dort beginnt Lars von Trier seine pornografische Vergangenheitsbewältigung 

Der Skandal der zunehmenden Trennung von Sex und Gefühl

Lars von Trier ist an seiner Versuchsanordnung am kompromisslosesten orientiert: Er thematisiert, wie auch «Blind Massage», die abgespaltene Körperlichkeit. Ihn interessiert, wie er diesen Vorgang von Wirklichkeit in der Fiktion untersuchen kann. Ihn fasziniert, wie er seine Erfahrung Pornografisches zu inszenieren mit seiner Passion belehrend zu sein verbinden kann: Nicht seine Filme haben ihn zum Liebling der Skandal-Nudeln gemacht (seine Filme sind nämlich durchaus nicht leicht zu entziffern), sondern seine Kompromisslosigkeit, die oft unser Verständnis überfordert.

Selbst wer auf der Suche nach dem Skandal ist, kann in «Nymphomaniac» erst einmal nur auf die Geschlechtsteile der Pronodarsteller zeigen um das skandhalhafte nachzuweisen. Von Trier hat nämlich die Szenen mit Bodydoubles ‚gefakt‘. Die Einschübe sind nicht besonders kenntlich gemacht, wenn auch die von von Trier gerne genutzte Zahlenmystik dazu viel Gelegenheit geboten hätte.

Ansonsten wird die Zuschauerin nur auf eine geistreich nachkomponierte «Suche nach der verlorenen Zeit» stossen. Der Meister der Versuchs-Wirklichkeiten selbst gefällt sich allerdings auch so wieder einmal im Spiesserrutenlauf. «Ich provoziere nicht nur die anderen, ich erkläre mir, meiner Erziehung, meinen Werten, auch ständig selbst den Krieg. Und ich attackiere die Gutmenschen-Philosophie, die in meiner Familie herrschte.“

Der Film von Triers selber bleibt hingegen nur in seinem szenischen Witz wirklich grandios: Phantastisch etwas, wie er die herbeigeführte Scheidung ad absurdum führt. Aber nach fast drei Stunden bleibt don Lars von Trier eher eine Altherren-Phantasie: Die entlarvt nicht einmal den Schein der Erfüllung, der der masslosen Nymphomanin versagt bleibt. «Nymphomaniac» bleibt an der Oberfläche, wo es gälte, die Abstumpfung durch Übersättigung zu zeigen.

«Blind Massage»  hingegen führt uns die Trennung von Eros und Sexus nicht vor Augen – sondern vor Ohren. Auch in «Blind Massage» bezahlt ein Mann für Liebesdienste, wie in «Top Girls». Auch hier sucht eine Frau nach Liebe im Sex. Aber der Blinde tut es auf der Suche nach der Schönheit. Nicht auf der Suche nach Überlegenheit. Denn für die Blinden in «Blind Massage» ist es eine der grössten Fragen, die nach Antwort sucht: Was ist Schönheit? Wie lässt sich sich mit einer anderen vergleichen? Nicht: Spieglein, Spieglein an der Wand. Sondern: Was ist das Pfand in meiner Hand …

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