Biccicletta mit einem Gang, 8. August 2002

Die Einsicht bleibt: Zu Fuss schaffe ich es nicht nach Sizilien. Also doch ein Velo? Gespräche mit dem Velohändler, der wieder ganz nüchtern ist.

Abschied vom Hotelzimmerin Figline, das inklusive Nachtessen 15 Euro kostet (Zimmer rechts oben). (Bild: Urs Buess)

Die Einsicht bleibt: Zu Fuss schaffe ich es nicht nach Sizilien. Also doch ein Velo? Gespräche mit dem Velohändler, der wieder ganz nüchtern ist.

Das Stimmengewirr auf der Piazza war ein Schlaflied, ich fiel schnell und unversehens hinüber trotz heller Lampen, offener Fenster. Irgendwann in der Nacht weckte mich ein Schmerz – die Matratze war auf eine seltsame Art voller Drähte, die eigenartig in den Rücken oder in die Seite stachen. Ein Bett, dachte ich, habe ich schon ausprobiert und es ist zusammengekracht, bleibt nur noch das dritte. Doch auch dort diese Drähte. Versuchte, mich dazwischen so bequem wie möglich einzurichten.

Der Wirt hätte mir gern einen Cappuccino gemacht, aber der Dampfhahn funktionierte nicht, der Schaum blieb aus und ich trank einen mässig guten Milchkaffee. Dann präsentierte er mir die Rechnung: Fünfzehn Euro. Okay, es war ein mangelhaftes Zimmer, das man schlecht vermieten konnte – aber immerhin im Trockenen und eine traumhafte Sicht. Und dazu ein Nachtessen. So was Günstiges hab ich nun doch noch nie erlebt.

Diskutieren oder zahlen?

Ich sagte ihm, das Zimmer für fünfzehn Euro sei okay, aber ich hätte auch gegessen. Er fragte mich, ob ich diskutieren oder zahlen wolle. Ich wies ihn nochmals aufs Nachtessen hin, und er sagte, bei ihm könne man gar nicht essen. «Aber ich habe gegessen: Papardelle und Fleisch. Und Wein.» Ob ich denn nicht bezahlt habe, fragte er. Ich sagte ihm, dass er vorgeschlagen habe, das Essen auf die Rechnung zu schlagen. «Wie muss ich betrunken gewesen sein», sagte er, «gib mir jetzt fünfzehn Euro und geh.»

Ich zahlte, liess den Rucksack vorerst stehen und suchte den Mann von gestern Abend auf, der mir eine Velo verkaufen wollte. Ich fand ihn, er erinnerte sich und sagte, er habe wohl doch kein Velo. Er verschwand, liess mich eine Weile stehen und sagte, er habe eines gefunden, aber ein Damenvelo. Ich bat ihn, es mir zu zeigen. Aber es war eher ein Kindervelo.

Ein Rennvelo, Marke Lura

Daneben stand ein Renner, Marke Lura. Sah etwa so aus, wie jene Maschinen, auf denen Francesco Moser in den Siebziger Jahren den Giro, die Tour de France und Paris-Roubaix gefahren war. Ich war sofort begeistert und wir einigten uns auf hundertzwanzig Euro. Dann sagte ich, er solle mir noch einen Gepäckträger montieren. «Wozu? Bist du verrückt! Da geht kein Gepäck drauf.» Ich sagte ihm, dass ich einen schweren Rucksack mitschleppe, und er überzeugte mich, dass dieses Gefährt für diesen Zweck untauglich sei. Zu leicht und schwach mit diesen dünnen Reifen. Es tat weh, dies einsehen zu müssen. Aber ich sah es ein.

Er offerierte mir dann ein anderes, sozusagen neues Velo zum selben Preis inklusive Gepäckträger. In einer Stunde habe er es bereit. Ich trank auf der Piazza einen Kaffee, schrieb ein paar Ansichtskarten, fand aus unerfindlichen Gründen eine NZZ und informierte mich mal wieder.

Dann versuchten wir, den Rucksack auf den Gepäckträger zu schnallen. Er wollte das Ding mit einem alten Elektrokabel befestigen, doch ich winkte ab. Das hätte etwa fünfhundert Meter weit gehalten. Ich bat ihn, mir noch ein Körbchen vorn drauf zu montieren, suchte im Dorf nach einer Eisenwarenhandlung und alles, was ich bekam, war ein Nylonseil. Immerhin. Das Körbchen war dran, eine Pumpe hatte er mir auch draufgeschnallt und so kostete das Velo plötzlich hundertsiebzig. Den Rucksack banden wir quer drauf und nach fünfhundert Metern merkte ich, dass das so nicht ging. Versuchte es von neuem, der Länge nach. Dann fuhr ich schwankend los.

Ohne Übersetzung

Sehr bald einen Hang hinauf und das mit einem zwar ziemlich neuen Velo aber – wie ich feststellte – ohne Übersetzung. Ein Velo mit nur einem Gang. Eines dieser Velos, auf denen die Leute hier auf der Piazza rumgondeln, so langsam, wie es nur Italiener können, so langsam, dass man sich andauernd wundert, warum sie nicht umfallen.

Eine halbe Stunde bergan und dann war ich mit mir und der Welt wieder versöhnt. Befand mit auf einer Chianti-Weinstrasse, hundert Meter über dem Tal des Arno, radelte Arezzo zu, meist ebenaus und oft leicht abwärts. Es war eine reine Freude. Der Irre von Montefiorino kam mir in den Sinn: Jaja, er hatte schon recht, sich so abwärts treiben zu lassen, in die Landschaft blicken, den Rücken frei – ein völlig neues Erlebnis, ein Genuss, eine Wohltat. Dichter Feigengeruch in der Nase, an der Terrassenlandschaft vorbei, auf denen mal Reben, mal Oliven reiften. Immer wieder kleine Pausen, um Wasser zu trinken, in eine Bar einzukehren, eine Osteria zu besuchen. Einsame Strasse, mal ein Sonnenblumenfeld, immer leicht abwärts, Arrezzo rückte mühelos näher.

Arrezzo habe ich vor fünfundzwanzig Jahren besucht, hatte die Stadt als öd und dürr in Erinnerung und war nun sehr erstaunt, wie schmuck sie aussah. War drauf und dran, ein Zimmer zu suchen, genierte mich aber etwas in meiner Aufmachung in kurzen roten Hosen, dem grauen Trägerleibchen und dem vollbepackten Gilet drüber. Ich trage es nur, wenn ich absteige. Sonst ruht es im Körbchen. Dazu kommen noch die hohen Wanderschuhe und alles in allem sehe ich wahrscheinlich etwas komisch aus. So jedenfalls blicken mich die Leute an.

Giacometti und die Etrusker

Trotzdem suchte ich das Museum, zahlte den Eintritt, denn ich wollte sehen, ob die kleinen Etrusker-Figuren tatsächlich jenen von Giacometti glichen, wie ich es in Erinnerung hatte. Ja, ja, ein bisschen glichen sie ihnen schon, aber ich trug das falsche Tenue für ein Museum. Die Touristen guckten mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost und unter diesen Bedingungen kann man nun wirklich keine kunsthistorischen Betrachtungen abhalten. Kurz: Die kleinen etruskischen Krieger-Figuren, dünne, filigrane Kunstwerke, sehen schon etwas anders aus als die kleinen Giacomettis, aber die Reduktion auf das Dünne, Zerbrechliche der etruskischen Kleinkunst erinnert halt doch an den grossen Alberto. 

Auf der Strasse ist mein Tenue nicht so ein grosses Problem. Immerhin fahre ich auf einem Velo, und da gebührt mir mehr Respekt, als er mir als Wanderer zuteil kam. Ich bin nicht mehr einer, der einen Rucksack dem Verkehr entlang buckelt. Nur habe ich heute Momente vermisst, wo ich für eine kurze Zeit durch einen Wald völlig allein und fern vom allgemeinen Verkehr vor mich hinwanderte.

Leute in den Dörfern schauten mich etwas seltsam an, grüssten, wunderten sich allenfalls über die  komische Ausrüstung, die da ein erwachsener Mann mit nacktem Oberkörper durch die Landschaft karrt. Die Autos überholten mich einfach, respektvoller, als wenn ich wanderte. Die sportlichen Velofahrer in den grellen Trikots schauten mich sonderbar an. Ein richtig gut ausgerüsteter Velotourist bin ich nicht. Die haben bessere Velos und handliche Gepäcktaschen. Ein Rennfahrer bin ich auch nicht, das farbige Trikot fehlt. Und die so Vorbeirasenden schauten mich einfach an, die einen grüssten erschrocken, andere winkten mitleidig und die dritten lachten, weil sie irgend etwas lustig fanden.

Konzentrierter

Und es ist eine neue Art zu reisen. Dieses Gefährt zu handhaben, ist nicht schwierig. Aber es erfordert dieses Quäntchen zusätzlicher Konzentration, das es verunmöglicht, so in Gedanken versunken vor sich hinzugehen. Bin nun dreieinhalb Monate vor mich hingewandert, schon immer mit einem neuen Ziel vor mir, aber in einem Tempo, das meinen Gedanken völlige Freiheit gewährte. Jetzt, merke ich, schaue ich konzentrierter alles an, was mir begegnet, was an mir vorbeifährt, an mir vorübergeht

Es zog mich dann immer weiter. Zum erste Mal auf dieser Reise bin ich durch eine dieser unwirtlichen Vorstadt-Gegend hinausgefahren und nicht gewandert. An Tankstellen, Autofriedhöfen, wartenden Nutten, Schweinefabriken, Ampelanlagen vorbei Richtung Perugia.

Cortuna war mein Ziel, in Castiglione drohte ein Gewitter, Agriturismo bot sich an, ich bog ein und fragte nach einem Bett. Man wies mich ab, machte mich aber auf eine Cousine aufmerksam, die nebenan Zimmer vermiete. Ich fand sie und sie hat mir ein wunderschönes Zimmer bereit gestellt. Küche inklusive. Hier sitz ich bei offenem Fenster, höre den Grillen zu und  frage mich, ob dieser Übergang vom Fussmarsch zur Velotour auf die Länge so unglimpflich an meinem Gemüt vorüber gehe.

(Castiglione Fiorentina, 8. August 2002)

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