Manchmal findet gar ein Berlinale-Sieger seinen Weg in die Programm-Kinos nicht. «Black Coal, Thin Ice», wird vom Stadtkino vor dem Vergessen im Westen gerettet. Ein Feuerwerk vor taghellem Himmel.
Der chinesische Titel: Das Feuerwerk am hellichten Tag
Im ersten Bild fasst die Kamera den Beginn einer Geschichte in seinen geschichtlichen Zusammenhang. Wir sind mitten im industriellen Aufbruch Chinas der Jahrtausendwende. Der Bild-Ausschnitt zeigt Kohleschutt, der auf einer Ladefläche durch einen Tunnel gefahren wird. Im Schutt liegt ein geschnürtes Bündel. Wird da ein Verbrechen an den Tag gebracht? Oder soll da eine Leiche beseitigt werden?
Am Bildrand ist ein Bus sichtbar, aus dem vielkehlig ein Loblied auf Maos Soldaten erklingt, das diese Szene musikalisch begleitet. Die ersten Sekunden von «Black Coal, Thin Ice» bilden eine karge Ouvertüre zu einem schillernd trostlosen China-Bild von heute.
«Black Coal, Thin Ice» von Diao Yinan, hat 2014 den Goldenen Bären für den besten Film und den silbernen Bären für den besten Hauptdarsteller erhalten. In die Programm-Kinos hat es dieser Film Noir aus dem zweitgrössten Film-Land der Welt in der Schweiz nicht geschafft.
Wer Bilder gerne liest und Film als das Vergnügen sieht, Bildkompositionen zu entziffern, darf sich im Stadtkino auf einen besonderen Leckerbissen gefasst machen. Kamera-Arbeit vom Feinsten. Bilder, die allesamt sorgfältig ins Licht getaucht sind. Jedes Bild erzählt über sich selbst hinaus einen Teil einer grösseren Geschichte.
Aus dem Dunkel an den Tag oder tageslichtscheu?
Das Bündel, das wir eben sahen, ist Teil einer Kette von Verbrechen. Es harrt nun auf dem Laufband der Entdeckung. Die Kamera dreht uns kurz schwindelig, ehe die Leiche von der Bagger-Schaufel ergriffen wird. Auf einem Laufband setzt eine Hand die Reise in den Kohletrümmern fort – zerstückelt. Jetzt sind erst vierzig Sekunden vergangen und wir haben die Elemente eines Thrillers bereits erkannt: Ein grauenhaftes Verbrechen will aufgeklärt werden.
Darin stimmen auch jene gänzlich unbeteiligten Kohlekumpel überein, die nun Körperteile bergen. Das grossartige an Diao Yinans Erzählkunst sind aber nicht nur seine lichterfüllten Bildkompositionen. Er schafft es auch, eine individuelle Geschichte vor der Kulisse der Industrie-Geschichte zu inszenieren. Ein Thriller, der nicht unsere Wahrnehmung mit dämlichen Kampfszenen zumüllt, sondern unsere Phantasie mit Andeutungen auf eine Reise am Rande des Horrors schickt.
Mitten in der verlorenen Welt hilft die Liebe
Aber Diao Yinan kann mehr, als bloss spannend einen Serienmord aufklären. Er kann auch die Geheimnisse der Liebe lüften: Zwei Hände, deren Finger sich bildfüllend befühlen, schieben unter Kichern Spielkarten auf der Bettwäsche beiseite. Sie decken dabei schnaufend ein Ass auf, als sei das Fingerspiel auf der Haut Teil eines Pokers.
Mit solchen filmischen Kompositionen wird vor der Kulisse der Umweltzerstörung eine Verbrechen aufgelöst, ein Serienmord, der seine Schatten auch auf seinen Hintergrund wirft, wo der massenhaften Mord an der Natur durch Menschenhand stattfindet, der die Chinesen immer mehr beschäftigt.
Dabei spielt Diao Yinan nie aus Selbstzweck seine lichtgetränkten Bilder. Wenn er eine kreisrunde Kamerafahrt durch den Neuschnee enden lässt, verführt er uns mit einer gut gelaunten Geschichte:
Ein Mofa-Fahrer steigt neben einem gestürzten Motorradfahrer ab. Der Helfer erkundigt sich bei dem Gestürzten nach dessen Befinden. Der Verunfallte ist betrunken und fürchtet eine Polizeikontrolle. Der Helfer bietet ihm Hilfe an. Der betrunkene, ehemalige Polizist lehnt ab. Erst als der Helfer sicher ist, dass der Verunfallte sich strafbar gemacht hat, lässt er ihn liegen und fährt – mit dessen Motorrad – weiter!
Bilder aus dem unbekannten China
Sie wie diese Einstellung mit einer darwinistischen Überraschung endet, so bleibt «Black Coal, Thin Ice» immer unberechenbar und angriffig. Er fasst dabei, ohne explizit politisch zu sein, in einem grossen Bilderbogen zusammen, was Korruption heisst. Meist fliesst dabei Geld. Oft fliesst auch Blut. Meist lässt sich mit Schweigen über ein Verbrechen Kapital schlagen.
Am Ende ist zumindest das Mord-Verbrechen aufgeklärt. Es lag in der Natur des Menschen. Doch die Verbrechen des Menschen an der Natur bleiben, und werden weiter verhüllt. Es ist diese Vielschichtigkeit, die den Film auszeichnet. Er ist nicht nur ein «Film Noir». Er ist auch eine politisch riskierte Bestandesaufnahme aus der chinesischen Provinz. Ein goldener Bär aus dem Land der goldenen Drachen. Mit einem verblassendend Feuerwerk endet die Geschichte. Ein weiteres farbenfrohes Ereignis im Film, dessen tagheller Himmel immer mehr zu einem dichten Abgas-Nebel wird.
Ein Juwel aus dem zweitgrössten Filmland der Welt, der bislang in keine Fassung passte.
In der Reihe ‚Le Bon Film‘ ist er nun im Stadtkino zu sehen: Donnerstag 12.3 2015 21:00 | Samstag 14.3 2015 15:00 | Montag 16.3 2015 18:30 | Freitag 20.3 2015 18:45 | Samstag 28.3 2015 22:15