Geistig behinderten Personen darf die Einbürgerung nicht mit der Begründung verwehrt werden, dass sie gar nicht verstehen würden, um was es geht. Die Gemeindeversammlung der Stadt Amriswil im Thurgau hat laut Bundesgericht eine junge Frau aus Serbien diskriminiert.
Die Eltern der 20 Jahre alten geistig behinderten Serbin hatten 2009 für ihre Tochter ein Einbürgerungsgesuch gestellt. Die Gemeindeversammlung von Amriswil wies das Gesuch 2011 ab. Mit ihrem Entscheid folgte sie der entsprechenden Empfehlung des Stadtrats.
Dieser hatte die Auffassung vertreten, dass die junge Frau gar keinen eigenen Willen zur Erlangung des Schweizer Bürgerrechts habe und es bei geistig behinderten Personen keinen Einbürgerungsautomatismus geben dürfe. Für die junge Frau sei die allfällige Einbürgerung auch nicht mit klaren Vorteilen verbunden.
Urteilsunfähige ausgeschlossen
Das Thurgauer Justizdepartement hob den Entscheid 2012 auf. Das Bundesgericht hat die Beschwerde der Gemeinde nun abgewiesen. Laut Gericht weist die betroffene Frau in geistiger Hinsicht das Niveau eines Kleinkindes auf. Es sei deshalb davon auszugehen, dass sie die Tragweite der Einbürgerung tatsächlich nicht erfasse.
Werde eine Einbürgerung mit dieser Begründung verweigert, schliesse dies all diejenigen Behinderten von der Erteilung des Bürgerrechts aus, denen es diesbezüglich an Urteilsfähigkeit fehle. Der Entscheid der Gemeindeversammlung habe damit einen diskriminierenden Effekt, auch wenn sie nicht auf eine solche Benachteiligung abgezielt habe.
Kein Automatismus
Zu beachten sei zudem, dass das Gesetz selber die Einbürgerung von urteilsunfähigen Personen ausdrücklich vorsehe. Die festgestellte Diskriminierung hat laut Bundesgericht nicht zur Folge, dass geistig behinderte Menschen nun automatisch und unabhängig vom Einzelfall immer eingebürgert werden müssten.
Zu prüfen sei vielmehr, ob eine urteilsfähige Person in einer ähnlichen Lebenssituation mit vergleichbarem Lebenshintergrund auch ein Einbürgerungsgesuch gestellt hätte. Im konkreten Fall lebe die behinderte Frau seit ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz und sei mit den hiesigen Verhältnissen vertraut.
Ihre Eltern hätten für sich selber zwar nie um Einbürgerung ersucht. Bereits eingebürgert seien dagegen Bruder und Schwester. Letztere sei heute Vormundin der Betroffenen, habe sie im ganzen Verfahren vertreten und die Einbürgerung dabei deutlich befürwortet. Dieser Willensbekundung komme entscheidende Bedeutung zu.
Gesicherter Status
Die Einbürgerung verschaffe der behinderten Frau einen gesicherten Status in der Schweiz und liege damit auch klar in deren eigenem Interesse. Als Schweizer Bürgerin werde ihr die wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität besonders zuteil. Schliesslich bestreite die Gemeinde nicht, dass sie integriert sei.
Die Sache geht nun zu neuem Entscheid zurück an die Gemeindeversammlung von Amriswil. Sie wird der jungen Frau das Bürgerrecht einräumen müssen, sofern sich die Sachlage laut Bundesgericht in der Zwischenzeit nicht entscheidend verändert hat. (Urteil 1D_2/2012 vom 13. Mai 2013; BGE-Publikation)