Das Scheitern des Familienartikels am Ständemehr bedeutet für Bundesrat Alain Berset die Fortsetzung der Familienpolitik auf den bestehenden Grundlagen. Die Situation mit erreichtem Volks- bei verpasstem Ständemehr sei speziell.
Dass eine Vorlage am Ständemehr scheitere, aber eine Volksmehrheit erreiche, sei seit 1848 erst neunmal vorgekommen, erklärte der Innenminister am Sonntag vor den Bundeshausmedien. Die Verfassung verlange bei Verfassungsänderungen das Doppelmehr von Volk und Ständen. Der Abstimmungsausgang sei damit klar.
Berset erwähnte aber die Deutlichkeit des Volksmehrs. Beim Familienartikel habe das Ja-Lager die Gegnerschaft um über 200’000 Stimmen übertrumpft. Bei früheren Vorlagen, die am Ständemehr scheiterten aber ein Volksmehr erreichten, sei der Unterschied jeweils viel kleiner gewesen.
Eine Mehrheit der Bevölkerung habe sich für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgesprochen, stellte Berset fest. Die Bedürfnisse der sich wandelnden Familien seien damit breit anerkannt. Einige Massnahmen seien bereits eingeleitet.
Das Votum vom Sonntag sei damit als Signal für die Weiterführung der Familienpolitik auf den aktuellen Grundlagen zu werten. Eine deutliche Mehrheit wolle Verbesserungen. Diesen Wünschen müssten Bund, Kantone, Gemeinden und Wirtschaft auf den bestehenden Grundlagen nun entgegenkommen.
SVP bestärkt
Das Scheitern des Verfassungsartikels zur Familienpolitik ist nach Ansicht von SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler (BE) ein klares Votum für die Selbstbetreuung der Kinder durch die Familie. Den Eltern werde damit der Rücken gestärkt.
Kinder könnten innerhalb der Familie besser betreut werden als extern in grossen Gruppen, sagte Geissbühler im Schweizer Fernsehen SRF. Eltern, die ihre Kinder selbst betreuten, erhielten nun mehr Anerkennung für ihre Arbeit.
Nach Ansicht von Stefan Brupbacher, Generalsekretär der FDP, ist eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor ein wichtiges gesellschaftliches Ziel. Für die Familienpolitik sollten jedoch weiterhin die Kantone und Gemeinden zuständig sein.
Das Scheitern der Vorlage am Ständemehr zeige, dass die Kantone einen unnötigen Eingriff in ihre Autonomie nicht goutierten. „Die Ablehnung trifft also genau den Nerv der Deutschschweizer Kantone“, sagte Brupbacher. In die Verfassung gehöre nur, was auf Bundesebene geregelt werden sollte.
Befürworter enttäuscht
Die Enttäuschung bei den Befürwortern des Verfassungsartikels zur Familienpolitik ist gross. Allerdings sei die Abstimmungsniederlage nicht eindeutig. „Die Bevölkerung hat Ja gesagt, sie möchte eine Änderung“, sagte alt Nationalrat Norbert Hochreutener, der Vater des Familienartikels.
Das Volksmehr habe Signalwirkung, sagte der alt Nationalrat der CVP gegenüber der Nachrichtenagentur sda. Die Gegner könnten nicht so tun, als ob es ein zweifaches Nein an der Urne gegeben habe. Das Resultat erstaunt den Berner. Er glaubt, dass die von der SVP lancierte Polemik gewirkt habe.
Mehr als einen Röstigraben sieht die SP-Ständerätin Liliane Maury Pasquier (GE) im Abstimmungsergebnis: Der Graben verlaufe zwischen den urbanen und ländlichen Kantonen. Letztere hätten den Verfassungsartikel abgelehnt.
Neue Vorschläge
Aufgeben möchten ihre Verfechter allerdings nicht. „Immer mehr Frauen arbeiten. Diesem Umstand gilt es Rechnung zu tragen“, sagte die Genfer Ständerätin. Als möglichen Ausweg sieht sie ein neues Gesetz anstelle eines Verfassungsartikels. Auf diese Weise wäre nur ein Volksmehr notwendig. Hochreutener schätzt, dass in ein bis zwei Jahren mit neuen Vorschlägen zu rechnen sei.
Gesellschaftspolitische Vorlagen hätten es in der Regel immer schwer, sagte Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz (CVP/SG), Geschäftsführerin der Pro Familia Schweiz. Manchmal brauche es mehrere Anläufe, um ans Ziel zu kommen.
Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur sda kündigte Meier-Schatz neue Vorstösse auf Bundesebene an. In einigen Jahren werde die Zeit dafür reif sein, sagte Meier-Schatz, ohne Details zu nennen. Jetzt gelte es zunächst einmal, die Bedürnisse in den Kantonen abzuklären.