Ehemalige Verdingkinder und all jenen Menschen, die im vergangenen Jahrhundert Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geworden sind: Sie hat Justizministerin Simonetta Sommaruga am Donnerstag an einem Gedenkanlass in Bern um Verzeihung gebeten.
Heimeinweisung, Kindeswegnahme, Zwangssterilisation, Gewalt, schwere Arbeit: «Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung», sagte Sommaruga. «Es ist an der Zeit, dass wir etwas tun, was man Ihnen allen bisher verweigert hat.»
Behördliche Willkür
Rund 700 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hatten sich zu dem Gedenkanlass in Bern eingefunden. Etliche Menschen im Saal griffen nach den Worten Sommarugas zum Taschentuch oder wischten sich verstohlen eine Träne weg.
Bis in die 70er-Jahre waren in der Schweiz Waisen und Kinder armer Familien häufig bei Bauern untergebracht worden, wo sie für Kost und Logis hart arbeiten mussten und kaum je ein gutes Wort hörten. Viele dieser ehemaligen Verdingkinder berichten von schweren Misshandlungen, behördlicher Willkür und Behörden, die wegschauten.
Oder administrativ Versorgte: «Ich kam mit 17 nach Hindelbank, ohne Gerichtsurteil», berichtete Ursula Biondi als Betroffene. «Mein einziges Vergehen war, dass ich jung war, leidenschaftlich, ich begehrte auf, und ich erwartete ein Baby, ohne verheiratet zu sein. Der Staat wollte mich nacherziehen.»
Gefährliche blinde Flecken
Nach der Entlassung sei an den Versorgten das Stigma haften geblieben, im Gefängnis gewesen zu sein. «Der Staat hat uns mit seiner Willkür schlimme Wunden zugefügt». Wegen des Leides und weil viele der einstigen Versorgten immer wieder aus der Bahn geworfen würden, sei ein Härtefall-Fonds nötig.
«Ich bin eine der Frauen, die aus eugenischen Gründen zur Abtreibung und Sterilisation gedrängt wurden», berichtete Bernadette Gächter, die ihre Erfahrungen als Buch veröffentlicht hat. 1972 sei das gewesen, sie war damals 18 Jahre alt. «Ich wäre gerne Mutter geworden.»
Sie sei für geistesgestört erklärt worden, sagte Gächter. In den über sie angelegten Akten stünden «schreckliche Unwahrheiten». Von Ämter und Institutionen forderte sie nicht nur Einsicht in ihr Dossier, sondern auch alleinige Verfügung.
Diskussion über Entschädigung
Was den Verdingkindern geschehen sei, könne kein Wort ungeschehen machen, und möge es noch so gut gewählt sein, sagte Sommaruga. Sie sprach von einer Verletzung der menschlichen Würde. «Wir können nicht länger wegschauen. Denn genau das haben wir bereits viel zu lange getan.» Wer wegschaue, stelle sich blind. Und nichts sei gefährlicher für eine Gesellschaft als blinde Flecken.
Die Geschichte der Verdingkinder und anderer Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen soll denn auch historisch und rechtlich aufgearbeitet werden. Zur Frage der finanziellen Entschädigung sagte Sommaruga am Donnerstag nichts. Sie hielt lediglich fest, es stellten sich auch finanzielle Fragen.
Um alles weitere soll sich nun alt Ständerat Hansruedi Stadler kümmern, den Sommaruga im Dezember zum Delegierten für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ernannt hatte. Stadler hat den Auftrag, einen Prozess einzuleiten, damit sämtliche offenen Punkte und Fragen zügig angegangen werden. Er werde bereits in den nächsten Wochen zu einem Runden Tisch einladen, sagte Sommaruga.
Bei Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen hatte sich 2010 bereits Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf entschuldigt. Damals ging es in erster Linie um Personen, die ohne Gerichtsurteil «administrativ versorgt» worden waren.
Dossiers zugänglich machen
Um Entschuldigung bat am Donnerstag auch Michel Thentz (JU) namens der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) sowie der Städte und Gemeinden. Die Sozialdirektoren setzten sich dafür ein, dass die Akten zum Thema nicht vernichtet würden. Die Kantone müssten den Betroffenen den Zugang zu ihren Dossiers ermöglichen.
Bauernverbands-Präsident Markus Ritter bat um Entschuldigung «für alles Unrecht, das Ihnen auf Bauernhöfen angetan worden ist.» Und auch Bischof Markus Büchel, Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz, bat im Namen der drei Landeskirchen die Menschen im Saal um Vergebung.