Fabian Cancellara betritt heute in Rio zum letzten Mal die grosse Rad-Bühne. Im olympischen Zeitfahren möchte der Berner noch einmal brillieren – wenn möglich mit dem Gewinn der 3. Olympia-Medaille.
Cancellara hinterliess in seiner letzten Saison auf dem Rennrad einen zwiespältigen Eindruck. In den grossen Eintagesrennen, die er in seinen besten Jahren dominiert hatte, kam er nicht mehr so recht auf Touren – trotz Rang 2 an der Flandern-Rundfahrt. Seine grossen Ziele in diesem Jahr, unter anderem ein Sieg in einem der Frühjahrs-Klassiker sowie die Maglia rosa am Giro d’Italia, erreichte er nicht. Siege durfte er dennoch bejubeln, zum Beispiel den Solo-Triumph an der Strade Bianche oder beim Prolog an der Tour de Suisse.
Nun folgt heute ab 15.00 Uhr mit der 54,6 km langen Prüfung gegen die Uhr in Rio sein letzter grosser Wettkampf. Der vom Strassenrennen bekannte Rundkurs mit den je zweimal zu befahrenden und steilen Anstiegen Grumari und Grota Funda sowie der bisherige Saisonverlauf lassen Cancellara nicht als grossen Favoriten antreten. Die meistgenannten Anwärter auf Gold sind andere, allen voran Chris Froome, der Gewinner der Tour de France. Vier Jahre nach Bradley Wiggins möchte auch Froome auf den Tour-Sieg den Zeitfahren-Triumph bei Olympia folgen lassen.
Cancellara abzuschreiben wäre aber falsch. In einem Zeitfahren gehört der 35-Jährige, der 2008 Olympiasieger wurde und zudem Silber im Strassenrennen gewann, stets zu den Anwärtern auf das Podest. Zwar hatten die Prüfungen gegen die Uhr für Cancellara zuletzt nicht mehr denselben Stellenwert wie zu Beginn seiner Karriere, als er zwischen 2006 und 2010 viermal Weltmeister geworden war. Aber noch immer gehört er zu den besten Zeitfahrern der Welt, was seine fünf Siege in diesem Jahr in seiner Spezialdisziplin belegen. Und nur zu gern würde Cancellara mit einem unerwarteten Exploit von der grossen Bühne abtreten.
«Ich bin gut drauf, nicht wahr?», fragte Cancellara nach dem Strassenrennen in die Runde. Vor seinen früheren Triumphen, die er oftmals im Vorfeld «angekündigt» hatte, schottete er sich regelrecht ab. Das ist in Rio anders. Gelassen und entspannt spricht er über die Zustände im olympischen Dorf, das zumindest für Radrennfahrer nicht optimale Essen. Und bezüglich des bevorstehenden Rennens sagt er: «Ich habe nichts zu verlieren. Im Gegensatz zu vielen anderen habe ich bereits eine Goldmedaille an Olympischen Spielen gewonnen.»
Die Aussagen lassen darauf schliessen, dass sich auch Cancellara selbst nicht in der Favoritenrolle sieht. Er scheint sich mit seinem anstehenden Karriereende irgendwie abgefunden zu haben. Das ändert aber nichts an seinem Ehrgeiz, der ungebrochen vorhanden ist. Denn er sagte auch: «Es geht um viel hier. Es ist schliesslich kein ‚Hauseckenrennen‘.»
Nach dem Strassenrennen, das er als 34. beendet hatte, strahlte er Zuversicht aus. «Es lief mir besser, als ich gedacht hatte», sagte Cancellara. Er schien ob sich selbst überrascht, dass er bis zum vorletzten Anstieg mit den besten Kletterern hatte mithalten und Sébastien Reichenbach im Finale noch einmal hatte nach vorne führen können.
Cancellara nutzte den ersten Auftritt in Rio auch als Vorbereitung auf das Zeitfahren. «Ich bin seit der Tour de France kein Rennen mehr gefahren. Es war wichtig für mich, in Schwung zu kommen. Und es war wichtig, dass auf dem Rundkurs ein Rennen stattfand, auch wenn ein Zeitfahren eine völlig andere Sachen ist», so der Berner. Er habe sicher viel Selbstvertrauen mitnehmen können, «erst recht, wenn man bedenkt, wie schlecht es vor vier Jahren in London gelaufen ist.» Damals kämpfte Cancellara mir den schmerzhaften Folgen seines Sturzes im Strassenrennen. Sichtlich angeschlagen reichte es ihm nur zum 7. Rang.
Ob das olympische Zeitfahren sein letzter Auftritt überhaupt als Radprofi ist, lässt Cancellara offen. Aus seinem engeren Umfeld ist jedoch zu vernehmen, dass er bis zum Saisonende noch das eine oder andere Rennen anhängen wolle.