City of Change – Demokratien im Stresstest der Kaserne

Während draussen in der Realität Menschen gegen Lohnkürzungen in St.Gallen demonstrieren, hält man in der Kaserne Basel Rückblick auf fiktive und effektive Demonstrationen. «City of Change» in St.Gallen und die «Stadt des Winters» in Moskau. Zwei Städte, zwei Filme, eine Performance und eine Diskussion. (Bild: zVg) Während draussen in der Realität Menschen gegen Lohnkürzungen in […]

Während draussen in der Realität Menschen gegen Lohnkürzungen in St.Gallen demonstrieren, hält man in der Kaserne Basel Rückblick auf fiktive und effektive Demonstrationen. «City of Change» in St.Gallen und die «Stadt des Winters» in Moskau. Zwei Städte, zwei Filme, eine Performance und eine Diskussion.


(Bild: zVg)

Während draussen in der Realität Menschen gegen Lohnkürzungen in St.Gallen demonstrieren, hält man in der Kaserne Basel Rückblick auf fiktive und effektive Demonstrationen. «City of Change» in St.Gallen und die «Stadt des Winters» in Moskau. Zwei Städte, zwei Filme, eine Performance und eine Diskussion.

Das «City of Change»-Video will uns berichten, wie vor einem Jahr am Theater St. Gallen das Demokratiespiel gespielt wurde. Der komische Horror scheint eine gute Friktion zu bieten, um dem realen ökonomischen Horror beizukommen. Soll die Kunst sich wieder politisch begreifen, oder muss die Politik ihre Kunst überdenken? Im letzten Sommer übte man am St. Galler Theater neue Demokratieformen – im Spiel. Bringt das weiter?

Das «Internationale Institut für Politischen Mord» will  der Politikverdrossenheit entgegenarbeiten. Zu diesem Zweck wurden während einer vierwöchigen Veranstaltungsreihe in St. Gallen im letzten Jahr eine virtuelle Stadtregierung gebildet, fiktive Konferenzen einberufen, echte Roundtables zu echten Themen anberaumt, fingierte Thesen ausgerufen, und vor allem: wenigstens für ein paar Stunden die politische Welt im Theater auf den Kopf gestellt. Nicht die Politik sollte den Ton angeben, sondern der Ton für eine neue Politik gefunden werden. Wenn das auch nicht immer gelang, so offenbarten die politischen Verwirrspiele des IIAP immerhin für die Theaterzuschauerinnen Entertainment-Qualitäten.

Milo Rau, einer der Köpfe hinter dem IIAP, hat sich in den letzten Jahren als Agent Provocateur zum Spezialisten für angewandte Irritationen gemausert. Wenn er in St.Gallen den Lehrermord und seine Folgen für das Zusammenleben mit Ausländern thematisierte, oder, wenn er kürzlich in Weimar versuchte, des Massenmörders Anders Breijviks morbide Weltauffassung als Defizitkiller in der Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen zu nutzen, brachte er sich – beabsichtigt? – in Erklärungsnöte. Es ist ohnehin weniger Aufklärung denn verweigerte Erklärung, die oft den Motor seiner Projekte ausmachen.

Das Verfahren glückt dann, wenn, wie in St.Gallen passiert, ein SVP-Politiker ausgerechnet die Veranstaltung verbieten lassen will, die er als Sprecher der Gegenseite mitgestaltet. Da zeigt sich die Wirkungsbreite, die Raus theatralen Provokationen ausmachen – immer sind sie medienwirksam, oft verstörend, meist schaffen sie eine neue Aufmerksamkeit. Missverständnisse sind bewusst gewollt und bilden den Anfang allen Verständnisses.

Was da so zwischen Erklärungsnot und Aufklärungsnotwendigkeit pendelt wird auch in «City of Change», dem Projekt, das nun in der Kaserne recycelt wird, klar: Die fast fiktive Bürgerregierung «City of Change » ernannte im Sommer St. Gallen zu einer utopischen Metropole, u.a. mittels einer provokativen Forderung nach dem Ausländerstimmrecht. Das traf auf zutiefst demokratieferne Reflexe der realen Bürger: „Was für ein Stuss! Was soll das denn sein, eine Demokratie, wo die ganze Bevölkerung mitreden soll!», argumentierten aufgebrachte Gegner.

Indem die eingesetzte Stadtregierung für die 30% Ausländer, die in St.Gallens Demokratie nichts zu sagen haben, das Stimmrecht forderte, schliff sie eine alte linke Bastion, und verwirrt auch Altlinke.  Mit der Forderung, Politiker seien nicht mehr zu wählen, sondern durch Los zu bestimmen, griff man auf eine alte griechische Tradition (der Privilegierten) zurück, und traf prompt auf heftigsten Widerstand. Mit jeder Verwirrung legte die Veranstaltung andere Defiziten im demokratischen Diskurs frei. Auch mit dem Initiativrecht wurde ein Verwirrspiel betrieben: Die «Initiative für die Wiedereinführung der Rassengesetze» stiess auf Verblüffung und doch auf entsetzlich wenig Widerstand. Es ist eben ein Merkmal von Kunst- wie Echt-Demokratie, dass auch über Stuss nachgedacht werden darf.

Vier Wochen lang wirkte das Kunst-Parlament, entwarf mit jenen, die an der Macht nicht teilhaben, eine Gegenwelt, repräsentierte Dissidenz und provozierte Widerspruch, tadelte die «Regierung» das «Volk»und belobigte es auch, weckte St. Galler Diskussionslust und spielte uneingeübte Demokratie ausserhalb der normierten Bahnen. Nichts blieb bei den Alten. Ist das genug für die Jungen?

Was im Film davon berichtet wird, ist als Reportage gerade mal informativ. Als Dokumentarfilm fehlt «City of Change» dann doch ein Verfahren, wie es zum Beispiel Chris Marker angewandt hatte, oder wie Baron Cohen es lustvoll zelebriert, wenn er «Regierung» spielt. So dokumentiert der Film bloss das Stürmchen im Wasserglas, gaukelt etwas mediale Aufmerksamkeit vor und liefert immerhin PR für das IIPM.

Gesprächsstoff für die Diskussionsrunde in der Kulturwerkstatt am Sonntag 16h30 über die Entwicklung der Demokratien wird morgen Sonntag auch der vergleichende Blick nach Moskau liefern. Es diskutieren über die «Demokratien im Stresstest»:

Dirk Baecker (Soziologe), Ueli Mäder (Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel) Yury Saprykin (Philosoph, Journalist und Publizist) mit Milo Rau und Anton Seregin diskutieren.

Spannend wird es danach werden. Dann zeigen die jungen Russen ihren zweiten Beitrag (am Nachmittag ist aus Moskau «Winter, go away!»  zu sehen): 19.30 Uhr ist das «Joseph Beuys Theater Moskau»  und «teatr.doc» mit «Demokratie.doc» zu sehen. Da darf das Publikum mit den Russen zusammen Demokratie im virtuellen Raum praktizieren.  

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