«Damals war Europa noch reich und der Balkan unsicheres Terrain»

Trotz aller Skepsis ist der EU-Beitritt ihres Landes am 1. Juli ein richtiger Schritt, schreibt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Obwohl viele zu Recht an der Beitrittsreife des Landes zweifelten, sei der Beitritt der einzige Weg zu dauerhafter Sicherheit.

Am Anfang herrschte reiner Optimismus. Heute sehen viele Kroaten dem EU-Beitritt mit Skepsis entgegen. (Bild: Reuters)

Trotz aller Skepsis ist der EU-Beitritt ihres Landes am 1. Juli ein richtiger Schritt, schreibt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Obwohl viele zu Recht an der Beitrittsreife des Landes zweifelten und auch in Kroatien selbst wenig Euphorie herrsche, sei der Beitritt für das kriegstraumatisierte Land der einzige Weg zu dauerhafter Sicherheit und Stabilität.

Noch gibt es Menschen, die sich daran erinnern, dass vor nicht allzu langer Zeit einmal ein Staat existierte, der Jugoslawien hiess. Er war föderal gegliedert und setzte sich aus sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen zusammen. Nach dem Fall des Kommunismus ist er verschwunden, erloschen und auseinander gebrochen, genau wie die UdSSR, die DDR oder die Tschechoslowakei.

Der einzige Unterschied war, dass das Verschwinden Jugoslawiens nicht im geringsten «samtweich» und friedlich vonstatten ging – vielmehr zerfiel der Staat in einem lang andauernden und sehr blutigen Krieg, der weit mehr als Hunderttausend Opfer forderte.

Eine traumatisierte Generation

Einer der neu entstandenen Staaten bezahlte für seine dadurch gewonnene Unabhängigkeit mit über 10’000 Menschenleben, der Aussiedelung des Grossteils der serbischen Minderheit, einer traumatisierten jungen Generation, zerstörten Städten und einer brach liegenden Wirtschaft – das war Kroatien.

Endlich befreit aus dem «Gefängnis der Völker» – wie Nationalisten Jugoslawien zu nennen pflegten – von der serbischen Vorherrschaft und dem totalitären politischen System, waren die Bürger Kroatiens stolz auf ihre erkämpfte Unabhängigkeit und machten sich ans Werk, eine nationale Identität aufzubauen.

«Heimatliebe»

Dieser Prozess verlief allerdings recht autoritär, unter den ideologischen Argusaugen des ersten Staatspräsidenten und «Vaters der Nation», Franjo Tudjman. Das Hauptkriterium für dessen Eignung lautete «Heimatliebe». Nach Tudjmans Tod Ende 1999 verstrich nicht viel Zeit, ehe Kroatien die Verhandlungen mit einer anderen Staatengemeinschaft aufnahm – der Europäischen Union.

Interessanterweise hat ausgerechnet Tudjmans Nachfolger, der mittlerweile wegen Korruptionsaffären mehrfach angeklagte ehemalige Ministerpräsident und Vorsitzende der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) Ivo Sanader, am meisten dazu beigetragen, dass sich Kroatien zur EU hin gewendet hat.

So unterschiedlich die beiden Völkergemeinschaften, Jugoslawien und die EU, auch sein mögen – es drängt sich die Frage auf, warum ein neu formierter Staat überhaupt diesen Weg eingeschlagen hat: Die Eingliederung in eine grössere Gemeinschaft, wo er doch für seine Unabhängigkeit so teuer bezahlt hat?

Eine Art Heimkehr

Als die Beitrittsverhandlungen begannen, war Europa noch reich, die Finanzkrise weit weg und der Balkan unsicheres Terrain. Der neue Staat fand sich in einer paradoxen Situation wieder: Einerseits entwickelte er eine nationale Identität, entsprechend den Ideen des 19. Jahrhunderts, die die Nation als etwas Gottgegebenes und Unabänderliches sehen, wie es etwa die Haut- oder Augenfarbe sind.

Andererseits – als ein Teil Europas und des Habsburger Reiches – bedeutet die Rückkehr nach Europa, in Gestalt der EU, eine Art Heimkehr: in die Zivilisation und den Wohlstand, in die Gesellschaft der Reichen und Wohlerzogenen, die ihre Gedanken leise austauschen, während dazu feines Porzellan und Kristallgläser klirren statt Schlachtermesser. Es wird Klavier gespielt und nicht mehr die Gusla, die für den Balkan typischen Laute.

Die Gründe für eine Annäherung waren nicht nur praktischer Art, sondern auch mythisch: Es bedeutete, Teil einer «zivilisierten Gesellschaft», des Westens, zu sein. Übrigens betonte Tudjman, der «Vater der Nation», dass «Kroatien bereits ein Europa vor Europa» sowie das «Bollwerk der Christenheit» gewesen sei.

Kampf der Kulturen

Einer noch gültigen Interpretation zufolge ist Kroatien ein Land, dass Südeuropa und dem Mittelmeer, sowie zu einem geringeren Teil dem westlichen Balkan zugerechnet wird. Das bedeutet eine Abgrenzung zwischen der katholischen einerseits und der orthodoxen sowie islamischen Religion und Zivilisation andererseits.

Um der EU jedoch beizutreten und seine Unterschiede gegenüber den östlichen Nachbarn hervorzuheben muss sich Kroatien paradoxerweise zunächst von seiner erst erworbenen politischen Souveränität lossagen. Die Argumente gegen eine Mitgliedschaft reichten dabei von der Prognose über den Untergang der EU, über den Verlust der Souveränität, bis hin zur Sorge um die nationale Identität. Die Wahlbeteiligung beim Beitrittsreferendum war gering und machte gerade mal 43,5 Prozent aus. Davon stimmte die Mehrheit, 66 Prozent, für eine Mitgliedschaft. Bei den Wahlen zum EU-Parlament war die Beteiligung noch geringer: Sie lag gerade einmal bei rund 20 Prozent.

Wachsendes Misstrauen

Es hat sich recht bald gezeigt, dass auch Serbien die gleichen Bestrebungen hat und in die EU will. Und so ist das Argument der Abgrenzung vom Nachbarstaat, das vor einem Jahrzehnt noch überaus bedeutsam war, in der Zwischenzeit weggefallen.

Eine wichtige Rolle für den Beitritt spielen jedoch auch praktische und materielle Argumente, wie ausländische Investitionen oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Im vergangenen Jahrzehnt fielen aber die negativen Folgen der Privatisierung staatlichen Eigentums, oder besser gesagt die Plünderung öffentlicher Finanzen, Korruption und das wachsende Misstrauen gegenüber der politischen Elite mit der Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU zusammen.

In Kroatien ist die Arbeitslosigkeit inzwischen auf rund 20 Prozent schwindelerregend angestiegen, und die Verschuldung auf fast 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Problematisch ist, dass inmitten dieser schweren Krise das Versprechen von «goodies», also EU-Beitrittsfonds zu Verbesserung der Lebensqualität, nicht mehr überzeugend klingt.

Plötzlich Skepsis

Die Ereignisse in Griechenland, Italien, Spanien und Frankreich rufen Sorge in der Bevölkerung hervor. Unmittelbar vor dem bevorstehenden Beitritt am 1. Juli ist mit einem Mal statt Optimismus reichlich Skepsis zu spüren. In letzter Zeit brachten die Medien Besorgnis erregende Artikel darüber, dass kroatische Produkte auf dem europäischen Markt nicht wettbewerbsfähig seien, dass der Staat den Schutz der heimischen Produktion wie etwa mancher Sorten Wein oder Trockenfleisch versäumt habe, dass die Landwirte keine einheimische Saat mehr aussähen dürften – und so weiter.

Konservative Bürgerinitiativen fordern unterdessen sogar ein Referendum, mit dem die Ehe ausschliesslich als heterosexuelle in der Verfassung verankert werden soll. Es regiert jedoch auch die Angst vor neuen Regeln einer europäischen Bürokratie. Und man stellt sich die bange Frage, welche EU-Länder die Beschäftigungsmöglichkeiten von Kroaten einschränken werden.

Der wahre Gewinn

Inmitten all dieser Überlegungen ist das Wichtigste jedoch untergegangen: Der wahre Gewinn eines kleinen Landes, wie es Kroatien ist, vor allem im Hinblick auf Sicherheit und Schutz in dieser instabilen und unsicheren Region Europas. Die Wahrheit ist, dass die Unabhängigkeit Kroatiens nur kurz währte, die Mitgliedschaft im neu entstandenen Staatenbund zumindest jedoch Frieden garantiert. Dies sollte wichtig sein, wenn man bedenkt, dass seit dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien nicht einmal 20 Jahre vergangen sind.

Andererseits ist es eine Tatsache, dass das arme Kroatien, das sich weder mit anderen Nicht-EU-Mitgliedern wie der Schweiz noch mit Norwegen messen kann, ausserhalb der EU geringere Chancen hat, wirtschaftlich zu bestehen.

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