Das Tor zu Europa – die griechische Insel Lesbos

Tausende Flüchtlinge erreichen jährlich die Hafenstadt Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos. Nach der Registrierung wollen sie weiter nach Athen und von dort weiter. Die Frau wirkt verzweifelt, als sie von einem uniformierten Mann gebeten wird, die Rampe freizugeben. Eine Sirene macht seit einigen Minuten deutlich, dass die Fähre den Hafen bald Richtung Athen verlassen […]

Syrische Flüchtlinge vor dem Einsteigen in die Fähre.

Tausende Flüchtlinge erreichen jährlich die Hafenstadt Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos. Nach der Registrierung wollen sie weiter nach Athen und von dort weiter.

Die Frau wirkt verzweifelt, als sie von einem uniformierten Mann gebeten wird, die Rampe freizugeben. Eine Sirene macht seit einigen Minuten deutlich, dass die Fähre den Hafen bald Richtung Athen verlassen wird. Rund fünfzig Flüchtlinge, die meisten aus Afghanistan, sind bereits eingestiegen.

Sie wurden von zwei Bussen der Polizei direkt an den Hafen gebracht. Die Frau – wahrscheinlich aus Syrien oder dem Irak – deutet auf ihre Tochter, auf die Fähre, dann auf ihren Mund und ihre Taschen. Sie scheint zu erklären, dass sie weder Geld noch zu Essen hat. Die uniformierten Männer, mit denen sie argumentiert, zucken mit den Achseln und deuten mehrfach auf die Ticket-Verkaufsstelle.

Plötzlich rennt ein junger Mann mit Papieren in der Hand hinzu. Wahrscheinlich ihr Sohn. Einer der Uniformierten hält fragend drei Finger hoch, nimmt die Papiere entgegen und gibt den Weg frei. Nachdem die Familie eingestiegen ist, fährt die Rampe hoch und das Schiff verlässt den Hafen. Heute haben es also alle geschafft. Morgen geht keine Fähre nach Athen. 

Lesbos als Tor zu Europa

Die griechische Insel Lesbos ist keine 20 Kilometer von der türkischen Küste entfernt. Tausende von Flüchtlingen erreichen jedes Jahr die Insel. 2004 war Javed einer von ihnen. Er konnte die Insel am gleichen Tag mit einer Fähre wieder verlassen, ohne aufgegriffen und registriert zu werden. Für die Flüchtlinge ist Lesbos ein Durchgangsort, um nach Europa zu kommen. Die, die auf der Insel bleiben, machen das meistens unfreiwillig – eingesperrt in einem geschlossenen Flüchtlingslager.

Laut Efi, einer Aktivistin von village of all together, hat sich die Situation seit dem Wahlsieg des Linksbündnisses Syriza verbessert. Flüchtlinge wurden oft für Monate, manchmal Jahre in den Lagern festgehalten. Die Camps seien überfüllt und die Aufseher überfordert gewesen – Berichte über Misshandlungen durch Polizisten hätten sich gehäuft, seien aber folgenlos geblieben.

Seit dem Regierungswechsel seien die meisten wieder frei. Neuankömmlinge würden für die Registrierung der Fingerabdrücke aufgenommen und wenige Tage später wieder freigelassen – offensichtlich direkt am Hafen, wo sie nach Athen weiterreisen können.

«Wir kommen aus dem Camp, dort wollen wir auf keinen Fall wieder hin.»

Ich will gerade gehen, als ein weiterer Polizeibus ankommt und hinter einem Haus verschwindet. Kurz darauf kommen drei afghanische Männer auf mich zu. «Sprichst du Englisch», fragt einer von ihnen. «Wo können wir Tickets kaufen?», fragt er in korrektem Englisch. Ich deute auf den geschlossenen Ticket-Stand neben uns. «Heute geht keine Fähre mehr», sage ich, «erst am Sonntag wieder.»

Er schweigt. Dann fragt er, «wo können wir übernachten? Gibt es Hostels hier?» Der Mann sieht gepflegt aus und trägt ordentliche Kleider. Er scheint zumindest ein günstiges Hostel bezahlen zu können. «Wir sind zwanzig Leute», fügt er an, nachdem ich ihm angeboten habe, den Weg zu zeigen. Ich überlege kurz und erzähle ihm dann von PIKPA, einem offenen Flüchtlingslager, das etwas ausserhalb der Stadt liegt.

«Camp?», fragt er misstrauisch. «Wir kommen aus dem Camp, dort wollen wir auf keinen Fall wieder hin.» Ich beschwichtige ihn, dass es ein offenes Camp sei, ohne Polizei und von Aktivisten bereitgestellt. «Keine Polizei?», fragt er ungläubig. «Keine Polizei», bestätige ich. «Wie lange wart ihr im Camp», will ich wissen. «Vier Tage.»

Bei ihrer Freilassung haben sie das sogenannte «White Paper» erhalten, ein Dokument mit der Aufforderung das Land innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Die Ausstellung dieses Dokumentes ist die Standardprozedur. Bei syrischen Flüchtlingen ist die Frist sechs Monate und das Papier kann erneuert werden. 

Um ein Ticket nach Athen zu kaufen, wird seit 2009 das «White Paper» benötigt. Als Javed hier war, konnten die Tickets auch ohne Papiere erworben werden. Die zwanzig Afghanen haben das Dokument. Sie wollen weiter nach Athen und von dort aus eine Möglichkeit finden, in ein anderes europäisches Land zu gelangen.

Ich gebe dem Mann die Adresse von PIKPA, und versichere ihm, dass sie dort gut aufgehoben sind. Selbst war ich noch nicht da. Efi hat mir davon erzählt.

Auf den Spuren des jungen Afghanen Javed, reist unser Blogger Simon Krieger auf seinem Fluchtweg zurück bis in den Iran. Dort trifft er Javeds Mutter, um für Javed ein Foto von ihr zu machen. Der afghanische Flüchtling kann sich – nach elf Jahren ohne Papiere in Griechenland – nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Diese Reise dokumentiert der Blog «Fluchtweg».

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Die entstehende Reportage «Ozra» ist Crowd-finanziert und kann noch bis zum 1. Mai 2015 unterstützt werden.

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