Javed ist auf seiner Flucht in den Westen in der griechischen Hafenstadt Patras gestrandet. Von hier aus will er weiter nach Italien flüchten. Der Basler Journalist Simon Krieger hat den afghanischen Migranten besucht, wird auf dessen Fluchtweg zurückreisen und Javeds Mutter besuchen, die ihren Sohn seit Jahren nicht mehr gesehen hat.
Einer der Männer springt auf, als er mich kommen sieht. Unverzüglich bietet er mir seine Sitzmöglichkeit an – die beste in der Runde. Ob ich einen Tee oder Kaffee möchte, fragt mich ein anderer. Den Stuhl abzulehnen ist keine Option. Ich sitze ab und nehme dankend eine Tasse Tee an. Es wird noch zwei Tage dauern, bis ich mich durchsetzen kann, auch auf dem Boden zu sitzen.
Draussen regnet es. Wir befinden uns in einer vormaligen Holzfabrik im griechischen Patras. Deren weite, dunkle Hallen sind von einem stetigen Rauschen durchdrungen. Es ist kühl. Das Feuer, um das wir sitzen, lässt knapp die fünf Männer erkennen – Flüchtlinge aus Afghanistan, die in dieser verlassenen Fabrik Unterschlupf gefunden haben.
Die Männer sprechen Dari untereinander. Javed neben mir ist einer der wenigen, der etwas Englisch spricht. Während wir um das wärmende Feuer sitzen, erzählt mir der 24-Jährige aus seinem Leben.
Als Achtjähriger sei er mit seiner Familie vor den Taliban nach Iran geflohen. «Ich war unglücklich in Iran», erzählt er. Ohne Papiere und somit ohne Möglichkeit, eine Schule zu besuchen, habe er keine Zukunft gesehen.
Die afghanischen Flüchtlinge schneiden sich im Innenhof der Fabrik gegenseitig die Haare. (Bild: Simon Krieger)
Ich sehe mich im Alter von acht Jahren in meinem Zimmer auf dem Boden sitzen. Vor mir meine Lego-Burg. Neben mir mein Bruder mit seiner. Ich denke daran, wie wir mit unseren Armeen aus Lego-Rittern die Burg des anderen angegriffen haben. Ich denke daran, wie oft ich nicht zur Schule wollte.
Zehn Jahre ist Javed jetzt in Griechenland. Er darf das Land nicht verlassen.
«Du musst bei uns bleiben. Bitte komm zurück», habe seine Mutter ihn weinend angefleht, als er sie von der türkischen Grenze aus anrief. Mit 14 beschloss Javed, nach Europa zu gehen. In LKWs, Anhängerwagen und teilweise zu Fuss ist er durch die Türkei gereist, um die griechische Insel Lesbos mit einem Gummiboot zu erreichen. «Doch die Küstenwache erwischte uns», erzählt er. «Sie warfen uns in ein Boot und setzten uns auf einer kleinen Insel an der türkischen Küste aus.» Beim zweiten Versuch sei es ihnen dann gelungen, auf Lesbos zu landen.
Zehn Jahre ist Javed jetzt in Griechenland. Er darf das Land nicht verlassen. Ich denke an EasyJet, daran, wie einfach ich weltweit überall hingehen kann. Ich denke an Eurodac.
Javeds Asylverfahren muss wegen des Schengen-Dublin Abkommens hier abgewickelt werden. «Aber da passiert nichts», sagt er, «wir dürfen nicht arbeiten und sind den Übergriffen der Polizei schutzlos ausgeliefert.» In Athen sei es noch schlimmer gewesen, da selbst viele Griechen auf Hilfe angewiesen seien, schildert er. Ob er noch Hoffnung habe, frage ich. «Hier, in Griechenland? Nein», antwortet er.
Javed und ich sind gleich alt. Wir haben Ähnlichkeiten, doch unsere Leben sind unfassbar unterschiedlich.
Sie ist schön, diese Fabrik. Faszinierend irgendwie. Düster und leer. Verlassen. Doch hier leben Menschen. Ein Ort zum Leben ist diese Fabrik aber nicht.
Ich denke daran, wie ich lebe. Und wie Javed lebt. Ich denke an Chancengleichheit. Javed und ich sind gleich alt. Wir haben Ähnlichkeiten, doch unsere Leben sind unfassbar unterschiedlich.
Ich versuche, mir mich als 14-Jährigen vorzustellen. Ausgesetzt auf einer kleinen Insel – von erwachsenen uniformierten Männern, deren Sprache ich nicht verstehe. Ich kann es nicht. Ich denke an Computerspiele, an die Schulzeit, an Unihockey. Ich denke daran, wie sich meine Mutter Sorgen machte, wenn ich spät nach Hause kam, wie ich das nicht verstehen konnte. Ich denke an die Sorgen von Javeds Mutter.
Ich sehe mich im Gummiboot in der Aare – Javed im Mittelmeer. Ich denke an Reisefreiheit. Ich denke an Lego-Ritter. An die Taliban.
«Die Jungs haben alle nur ein Ziel: Griechenland zu verlassen», sagt Javed.
Plötzlich stehen die Männer auf und gehen zum Ausgang, dann Richtung Hafen. Heute arbeite er nicht, sagt Javed. Seine «Arbeit», wie er es mit einem Augenzwinkern nennt, besteht darin, in den Hafen zu schleichen. «Regen ist gut, so sind wir nicht so leicht zu sehen», sagt einer, bevor er mit den anderen verschwindet.
Doch diese Nacht werden alle wieder zurückkehren. «Ungesehen in oder unter einen Lastwagen zu gelangen, ist schwierig und gefährlich», erklärt Javed. Aber es sei der einzige Weg auf eine Fähre nach Italien. «Die Jungs haben alle nur ein Ziel: Griechenland zu verlassen», sagt er.
Javed and der Küste in Patras, nahe dem Hafen. (Bild: Simon Krieger)
«Willst du mehr?», fragt einer der Männer und deutet auf den verbeulten Topf über dem Feuer. Darin sind gekochte Linsen mit einigen Kartoffelstücken. Ich verneine. Hunger hätte ich noch. Doch sie haben nicht viele Lebensmittel. Die Stadtverwaltung stelle Plastiktüten mit altem Brot bei der Fabrik ab, erklärt Javed. Auch die Kirche bringe während Festlichkeiten manchmal etwas vorbei.
Und dann gibt es noch diese ältere Frau, die sie liebevoll «Mami» nennen. Immer mal wieder bringe sie Essen vorbei. Richtiges Essen, das sie zu Hause zubereitet. Wenn Javed von ihr spricht, erheitert sich sein Gesicht. Das sehe ich nicht oft an ihm.
«Ich vermisse meine Mutter», sagt Javed plötzlich – etwas leiser als sonst. Er macht eine Pause und fügt an: «Dass ich mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern kann, macht es noch schlimmer.»
Ich denke an meine Mutter. An ihr Gesicht. Ich versuche, mir vorzustellen, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Es geht nicht.
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Im Oktober 2013 verbrachte Simon Krieger eine Woche mit den Flüchtlingen in einer leerstehenden Fabrik in der griechischen Hafenstadt Patras. Im April wird er die spiegelbildliche Reise zu Javeds Flucht antreten und in einem TagesWoche-Blog darüber berichten. Die Reise wird ihn bis zu Javeds Mutter Ozra bringen, deren Foto er zu Javed bringen wird – der inzwischen nach Österreich gelangt ist. Um die Kosten dieser Arbeit zu decken, hat er eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Die Entstehung der Reportage kann noch bis 1. Mai 2015 unterstützt werden.