Im Schaulager steht ein Werk, das tausend Jahre alt werden soll. Dabei ist es nicht einmal real. Wie soll das funktionieren? Und was hat das mit uns zu tun? Künstler David Claerbout hat die Antwort.
«Also wie jetzt, tausend Jahre alt?» Die Begleitung schaut verdutzt. Ich nicke. «Genau, auf tausend Jahre ist es ausgerichtet.» –«Tausend Jahre soll dieses Video hier laufen und das Gebäude darin in Echtzeit altern?» –«Genau.» –«Das begreif ich nicht.»
Ich anfangs auch nicht. Am Anfang begreift man bei David Claerbouts «Olympia» ziemlich wenig – am Anfang staunt man nur.
Anfangs, das war letztes Jahr in Berlin. Kältester April seit Langem, es lag sogar noch Schnee. Ich irrte in Neukölln herum und suchte ein Werk, von dem eine Freundin an einer Party gesagt hatte, ich solle es mir unbedingt ansehen. «Es wird dich öffnen», sagte sie verschwörerisch, und ich lachte. Sie war betrunken. «Schaus dir an, dann wirst du begreifen, was ich damit meine.»
Zwei Tage später stand ich im Kesselhaus einer alten Brauerei. Draussen hagelte es, drinnen war alles ganz still. Ein Pärchen picknickte leise auf den Sitzkissen neben mir, ansonsten war alles leer. Der hohe Raum war vollständig von zwei Leinwänden besetzt, sie waren die einzige Lichtquelle. Auf der einen Leinwand waren grosse Skulpturen zweier Athleten zu sehen, auf der anderen, grösseren, eine Kamerafahrt entlang eines Gebäudes. Es passierte wenig. Die Gräser rund um das abgebildete Gebäude wogten sanft im Wind.
Irgendwas stimmt nicht
Ich legte mich auf einen der grauen Sitzsäcke und wartete. Nichts passierte. Die Kamera rollte unentwegt um dieses Gebäude herum, in einer unerträglichen Langsamkeit. Irgendwann bekam ich einen Anruf und stolperte kurz nach draussen. Es war dunkel geworden, ich telefonierte halbherzig und merkte, wie ich mich danach sehnte, zum Stadion zurückzukehren, zur wohligen Gemächlichkeit dieser unsinnigen Kamerafahrt.
Ist das etwa…? Ja, das Olympiastadion in Berlin. Und nein, eigentlich nicht. (Bild: Alexander Preobrajenski)
In den nächsten Tagen besuchte ich die Brauerei immer wieder. Dabei begriff ich, woher die anfängliche Verunsicherung gekommen war: Das Gebäude war nicht echt. Also schon, aber eigentlich nicht. Der Künstler hatte das Berliner Olympiastadion komplett digitalisiert. Jeder Stein sass genau so, wie er im Stadion keine zwanzig Kilometer entfernt sass, jede Kante, jede Unebenheit war minutiös rekonstruiert.
Dieser Claerbout musste verrückt sein.
Zombies statt Art-Gedöns
Ein Jahr später sitze ich im Schaulager, und der Verrückte lacht mich an. Er redet gerade über Zombies, eine grosse Faszination von ihm, und gestikuliert begeistert. Verrückt sieht er nicht aus, eher angenehm normal, in Sonnenbrille und gemustertem Hemd. Das ganze Art-Basel-Gedöns, vertraute er mir kurz vor dem Gespräch an, sei nichts für ihn. Er freue sich, bald wieder nach Hause fahren zu können.
Diese Zurückhaltung ist seinen Werken anzumerken – auch «Olympia», das nach dem Kesselhaus nun im Schaulager steht. Claerbout zieht das Langsame dem Schnellen vor, das Gründliche dem Eiligen, die Auseinandersetzung der Abbildung. Sein Werk ist nicht Kunst um der Kunst willen, sondern immer einem Gedankenkonstrukt gewidmet, einer grossen Frage, die es zu erforschen gilt. Und sein liebstes Konstrukt ist die Zeit.
Mann der vielen Gesten: David Claerbout im Gespräch vor dem Schaulager. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Da passen die Zombies natürlich gut rein. Wesen, die weder tot noch lebendig sind, gefangen zwischen zwei Zuständen, ohne jegliche Zeitlichkeit. So wie das Olympiastadion?
Ja und nein. «Olympia», wie Claerbout dieses Werk genannt hat, verharrt nicht. Es entwickelt sich immer weiter. Claerbout hat zusammen mit Meteorologen, Geologen und anderen Wissenschaftlern die Entwicklung des Stadions über 1000 Jahre hin ausgerechnet. Wie verändert sich der Stein, die Struktur, die Oberfläche? Diese Erkenntnisse hat Claerbout ins Werk eingebaut. Sein digitales Stadion altert jetzt also vor sich hin – genau wie das «echte» in Berlin. Digitale Wirklichkeit in ihrer konsequentesten Ausführung.
So ein Zerfall will organisiert sein
Das Stadion altert in Echtzeit – auch wenn es gerade nicht ausgestellt ist. In Antwerpen steht der Prototyp, an dem ständig herumexperimentiert wird. Hier sind rund um die Uhr Programmierer und Wissenschaftler damit beschäftigt, den Zerfall des Gebäudes zu orchestrieren. Diese «Wartung» ist hochkomplex: Zwar ist der zentrale Einfluss – das Wetter – so gut wie möglich vorhergesagt, aber wenn etwas Unerwartetes geschieht, muss man trotzdem sofort reagieren. Das Wetter in «Olympia» muss schliesslich immer exakt dasselbe wie in Berlin sein.
«Als im Januar ein Schneesturm in Berlin angesagt war, sass ich drei Tage lang wie auf Nadeln», sagt Claerbout und grinst. Viel macht es ihm nicht aus.
Eine weitere arbeitsintensive Sache sind die Pflanzen: Was spriesst wann, wo und wie schnell? Bereits jetzt, etwas mehr als ein Jahr später, waren bereits feine Pflänzchen zwischen den Ritzen der grossen Steinplatten zu sehen. Sie werden Jahr für Jahr grösser werden und das Gebäude immer mehr einnehmen, bevor es schliesslich ganz unter ihnen verschwindet.
Das alles braucht aber Zeit. «Du kannst die Vergangenheit nicht jeden Tag updaten», sagt Claerbout. Er muss die Dinge grösser anlegen, auf Jahre hinaus. Seinen Nachfolger hat er auch schon bestimmt. Trotzdem: «Die Arbeit ist zum Scheitern verurteilt, klar.» Sie wird wie ihr Motiv irgendwann ihrem Umfeld erliegen – wenn sie zu gross oder zu alt für die Rechner wird, über die sie läuft.
Die Menschen hat Claerbout aus der Gleichung genommen. «Es hätte zu viel verändert», sagt er dazu bloss. Eine wuchtige Entscheidung, aber verständlich. Menschen sind unvorhersehbar, die Natur hingegen kann man zumindest teilweise berechnen. In einer anderen Arbeit, die zeitgleich an der Art Unlimited lief, hat Claerbout die Protagonisten des «Dschungelbuches» wieder zu Tieren gemacht – Balu und Co. machen in der Videoarbeit, was Tiere in Gefangenschaft halt so machen: gelangweilt rumliegen, schnuppern, streunen, dösen.
Jegliche Menschlichkeit ist ausradiert, und als Betrachter quält man sich durch die schier unerträgliche Ereignislosigkeit.
Message: Wir werden alle sterben
Wenn Mensch und Menschlichkeit verschwunden sind, tritt etwas anderes an den Tag, etwas Träges, Unerbittliches. Eine andere Art von Zeitempfindung. Das ist der Grund, wieso man sich Claerbouts Arbeiten so schwer entziehen kann: Sie sprechen ein Urgefühl an, das uns allen innewohnt. Einen Zustand, den wir längst vergessen haben, der aber in uns eingeschrieben ist, unser Wesen als Menschen ausmacht. «Olympia» zeigt unsere Vergänglichkeit auf. Nicht wie in «Bäm! Du wirst sterben!», sondern als Gefühl, als Geheimnis und Gewissheit. Die geheime Gewissheit, das definitive Geheimnis – das macht die wahre Unerträglichkeit seines Werkes aus.
Dass das Berliner Olympiastadion (erbaut 1934–1936) vor 80 Jahren als Vorzeige-Architektur des Faschismus diente, ist dabei bloss noch ein willkommenes Konzeptschmankerl. Das Gebäude unterstrich vorbildlich die «Ruinenwerttheorie» von Hitlers bevorzugtem Architekten Albert Speer, der ab 1937 Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt war: Bauten sollten dank Verwendung besonderer Materialien und unter Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen noch als Ruine nationalsozialistisches Gedankengut transportieren beziehungsweise die Macht und Grösse jenes Imperiums widerspiegeln.
Wie das Stadion antizipiert auch «Olympia» bereits in seiner Beschaffenheit den eigenen Zerfall. Wir, die Betrachter, müssen damit klarkommen. Tausend Jahre sind eine lange Zeit. Aber sie ist gezählt. Genau wie die unsere.
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Die Installation «Olympia» wird bis 22. Oktober im Schaulager Münchenstein/Basel gezeigt.