Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist der Mittelstand in der Schweiz nicht geschrumpft. Er wird auch nicht unverhältnismässig stark durch Steuern und Abgaben belastet, wie der Bundesrat aufgrund einer Studie festhält.
Fast alle politischen Parteien behaupten, sich für den Mittelstand einzusetzen. Gegenseitig werfen sie sich vor, den Mittelstand zugunsten der Oberschicht beziehungsweise der Unterschicht zu schröpfen. Glaubt man dem am Mittwoch vom Bundesrat veröffentlichten Bericht, steht es um den Mittelstand nicht so schlecht.
Problematisch an Analysen zum Zustand der Mittelschicht ist allerdings, dass keine Einigkeit über deren Definition besteht, wie der Bericht einräumt. Der Bund setzt den Mittelstand mit den mittleren Einkommensschichten gleich.
Als mittlere Einkommensgruppe gelten jene Personen, deren Haushalt zwischen 70 und 150 Prozent des Median-Einkommens verdient. 2012 waren dies beispielsweise Alleinlebende mit einem monatlichen Bruttoeinkommen zwischen 3868 und 8289 Franken oder Paare mit drei Kindern unter 14 Jahren mit einem monatlichen Einkommen von brutto 9283 bis 19‘892 Franken.
Nach dieser Definition ist der Mittelstand in den Jahren 1998 bis 2012 im Vergleich zur Ober- und Unterschicht stabil geblieben. Rund 57 Prozent der Bevölkerung gehörten 2012 zur Mittelschicht, gleich viele wie 1998.
Mehr Abgaben vor allem für Reiche
Den Bericht angestossen hatte SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer (BL) mit einem Postulat. Sie erkundigte sich darin auch, welche Umverteilungswirkung die Steuern und Abgaben hätten.
Laut dem Bericht hat die Belastung durch obligatorische Ausgaben deutlich zugenommen. Dies betrifft aber vor allem jene mit hohem Einkommen: Deren Einkommen ist zwar am stärksten gestiegen, gleichzeitig hat aber auch die Belastung durch obligatorische Abgaben überdurchschnittlich zugenommen.
Bei den mittleren Einkommen hat sich die Umverteilung durch Steuern und Abgaben im untersuchten Zeitraum hingegen kaum verändert. Das durchschnittliche verfügbare Einkommen ist zwischen 1998 und 2012 in der mittleren Einkommensgruppe am stärksten gewachsen, nämlich um 13 Prozent. Bei den Reichsten und den Ärmsten nahm es um je knapp 9 Prozent zu.
Bestätigt hat sich dagegen die Vermutung, dass die Krankenversicherungsprämien das Haushaltsbudget immer stärker belasten. Die Standard-Krankenversicherungsprämie stieg von 173 Franken im Jahr 1996 auf 396 Franken im Jahr 2014, was einem jährlichen Wachstum von 4,7 Prozent entspricht. Dem gegenüber wuchs das nominale Bruttoinlandprodukt pro Kopf um lediglich 1,9 Prozent pro Jahr. Der Nominallohn stieg um 1,2 Prozent jährlich.
Lebensmittel deutlich teurer
Dass die Schweiz eine Hochpreisinsel ist, bestätigt der Bericht ebenfalls. Schweizer Preise lagen 2013 um über 41 Prozent über jenen der EU-Kernländer. Im Vergleich mit kleineren Ländern wie Belgien, Dänemark, Irland oder Österreich liegt der Preisunterschied noch bei rund 17 Prozent.
Eine Schweizer Mittelschichtsfamilie mit zwei Kindern bezahlte für den gleichen «Lebensmittel-Warenkorb» monatlich zwischen 225 und 280 Franken mehr als eine deutsche. Gemessen am Bruttohaushaltseinkommen macht dies zwischen 2,1 und 2,6 Prozent aus. Rund 16 Prozent des Bruttoeinkommens geben Mittelschichthaushalte für das Wohnen aus. Für Wohneigentümer nahmen die Wohnkosten zwischen 1998 und 2011 ab, für Mieter nahmen sie leicht zu.
Eine Auslegeordnung mit Massnahmen zur Stärkung der Kaufkraft der Mittelschicht will der Bundesrat in einem anderen Bericht vornehmen. Generell gebe es zwei Möglichkeiten, hält er fest: Erstens Wachstums- und wettbewerbsfördernden Reformen und zweitens eine klassische Umverteilungspolitik.