Den SBB zwei Zuglängen voraus

Wo finde ich einen Sitzplatz? Die holländischen Eisenbahnen zeigen Reisenden per Handy-App und Leuchtband entlang der Perrons, wo sie am besten einsteigen. Die SBB überlegen sich jetzt ähnliche Lösungen.

Rot bedeutet belegt, grün heisst fast leer und orange halbvoll: Die Handy-App der Niederländischen Eisenbahnen NS zeigt Reisenden, wo es noch freie Sitzplätze hat. (Bild: Nils Fisch)

Wo finde ich einen Sitzplatz? Die holländischen Eisenbahnen zeigen Reisenden per Handy-App und Leuchtband entlang der Perrons, wo sie am besten einsteigen. Die SBB überlegen sich jetzt ähnliche Lösungen.

Der Pilotversuch der SBB im Laufental sorgte schweizweit für Schlagzeilen: Dank besseren Beschriftungen und exakten Halteorten wollen die SBB Reisende dazu bringen, rascher ein- und auszusteigen. Damit hofft die Bahn, die Kapazitäten auszureizen.

In der Schweiz unbeachtet haben bereits im Februar die niederländische Eisenbahnen NS einen Versuch gestartet mit derselben Absicht, aber unter Einbezug modernster Technik. Auf der Strecke zwischen Roosendaal und Zwolle können Reisende auf einer Handy-App abrufen, wo es im Zug noch freie Sitzplätze hat – und zwar bevor dieser im Bahnhof einfährt. Der Clou an diesem Test: Die Informationen über die Belegung entnimmt die App nicht einer Statistik-Datenbank, die Informationen überträgt die Bahn in Echtzeit für jeden Wagen.

Möglich machen dies Infrarotsensoren an den Wagentüren und im Innern des Zuges. Ein Computerprogramm berechnet nicht nur, wie viele Reisende im Zug mitfahren, sondern auch wie viele davon effektiv in einem Abteil sitzen. Wer die Handy-App startet, erfährt, wo es noch freie Sitzplätze hat. Das funktioniert ähnlich wie ein Parkleitsystem, einfach mit Ampelfarben: Grüne Wagen sind fast leer, orange halbvoll und rote voll besetzt.

180 Meter langes Leuchtband zeigt den Weg

Die App zeigt auch die exakte Zusammensetzung der elf Testzüge an: Wo ist die 1. Klasse, das Veloabteil? Einziger Nachteil der App: Sie gibt den Reisenden zwar detaillierte Informationen über den nächsten Zug, doch wo genau sie sich auf dem Perron am besten positionieren, müssen sie selbst abschätzen.

Deshalb hat die NS zusammen mit ProRail, der das Streckennetz in Holland gehört, ein 180 Meter langes LED-Leuchtband entwickelt. Auf diesem Band signalisieren auf den Meter genau farbige Leuchten die Auslastung der einzelnen Wagen.

Dieses Leuchtband habe die niederländische Eisenbahn jetzt den SBB ausgeliehen. Doch SBB-Pressesprecher Reto Schärli widerspricht: Eine SBB-Delegation habe sich den Versuch in Holland zwar angesehen, das Leuchtband aber doch nicht ausgeliehen, weil es technisch nicht passte. Er bestätigt dann aber doch: «Wir sind am Überlegen von ähnlichen Lösungen.»

Viele Wagen der SBB wären für das neue System ausgerüstet.

Die SBB haben schon lange Wagen mit Infrarotsensoren ausgerüstet. Damit misst die Bahn, wie stark einzelne Züge ausgelastet sind, um etwa zu entscheiden, wie viele Wagen an eine Lok angehängt werden sollen. Die neusten SBB-Doppelstockzüge, die sogenannten Regio-Dosto-Züge, sind durchgängig auch im Innern mit solchen Sensoren ausgerüstet und wären damit für einen Test nach holländischem Vorbild gerüstet.

Im Juli schloss die niederländische Eisenbahn den Feldversuch ihres über zwei Millionen Euro teuren Tests ab. Der Erfolg scheint selbst die Bahn überrascht zu haben. NS-Sprecherin Inge Rijgersberg jedenfalls betont, die Zugreisenden hätten «enthusiastisch» reagiert. Jetzt wertet die Bahn die Daten aus, um zu entscheiden, ob sie die Technik im grossen Stil einsetzen will.

Günstige App, teures Leuchtband

Auch wenn die Resultate noch nicht vorliegen, scheint jetzt schon klar, dass die Handy-App mehrere Vorteile bietet: Reisende könnten an jedem Bahnhof abfragen, wie der nächste Zug zusammengesetzt ist, und die App ist relativ günstig.
Das LED-Leuchtband bietet zwar gegenüber der App den grossen Vorteil, dass Wartende punktgenau sehen können, wo sie am besten einsteigen. Doch die Investitionskosten sind ungleich höher. Zudem muss das Band an jedem Bahnhof eingebaut werden, und nicht jeder Bahnhof eignet sich gleich gut.

Gut möglich, dass die niederländische Bahngesellschaft zum Schluss kommt, das Leuchtband lohne sich an sehr stark frequentierten Bahnhöfen, die an ihre Kapazitätsgrenzen stos­sen. In der Schweiz wäre zum Beispiel der Zürcher Bahnhof Hardbrücke ein denkbarer Einsatzort.

Ob die Kunden das System akzeptieren, ist beim niederländischen Test im Gegensatz zum SBB-Versuch im Laufental nicht die Gretchenfrage. Zu offensichtlich sind die Vorteile für die holländischen Bahnkunden. Knackpunkt ist das Preis-Leistungs-Verhältnis, die Frage, ob sich die Investitionen für die Eisenbahngesellschaft auszahlen: «Ob die Vorteile der Echtzeit-Kundeninformation die Kosten der doch recht teuren Lösung wert sind, ist eine der wichtigsten Fragen», sagt denn auch NS-Sprecherin Inge Rijgersberg.

Wie der Versuch technisch funktioniert, erklären die Niederländischen Eisenbahnen in diesem fünf minütigen Video auf Englisch. Wer nur rasch reinschauen möchte: Ab ca. 2.30 min folgt die Erklärung.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 23.08.13

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