Der fehlende Fixnet-Moment

Das Festnetztelefon ist so gut wie ganz aus unserem Leben verschwunden – wir haben ein Stück Gemütlichkeit verloren.

Das Festnetztelefon ist so gut wie ganz aus unserem Leben verschwunden – wir haben ein Stück Gemütlichkeit verloren.

Lieben Sie Italien?», fragte der Mann am Telefon. Die Vorwahl war italienisch. «Ich kann Ihnen eine schöne Immobilie in der Toskana anbieten», meinte er weiter. «Oder wie wäre es mit Olivenöl?» Höchste Zeit, aufzuhängen!

Dieses Telefonat ereignete sich vor einem Jahr. Seither hat fast niemand auf den privaten Festanschluss an­gerufen. Freunde und Familie ­melden sich per Mail, SMS, Facebook oder Skype. Das Festnetztelefon dagegen ist verwaist. Mittlerweile gilt bei mir die Bauernregel: «Wenn das Telefon zu Hause klingelt, es dir ­sofort Unheil bringet.»

Denn wenn man nicht in Immobiliengeschäfte verwickelt wird, betteln verzweifelte Mitarbeiterinnen von Marktforschungsinstituten mit weinerlicher Stimme um Zeit für eine Umfrage zum Thema AHV oder Medienkonsum. Oder ein Psycho stöhnt in den Hörer. Der Rest ist falsch verbunden. Und wird böse, wenn der oder die Gesuchte nicht da ist.

Der private Festanschluss ist tot – zumindest für die Mobiltelefongeneration. Da nützt es auch nichts, dass ihn die Swisscom «Fixnet» und die öffentlichen Telefon­kabinen «Publifone» nennt. Am liebsten würde sie ja die letzten 7500 Telefonkabinen in der Schweiz abmontieren. Aber das Gesetz schreibt vor, ein flächendeckendes Netz mit öffentlichen Telefonkabinen anzubieten.

Wie sehr viele das Heimelige des privaten Festanschlusses bereits vermissen, zeigt der Erfolg der sogenannten Freakyphones. Das sind alte Telefonhörer, die man ans Handy stecken kann und die wie ein Headset funktionieren. «Der Hörer schmiegt sich geradezu an Ihr Ohr, lässt sich mit der Schulter einklemmen und liegt satt in der Hand… ­alles Eigenschaften, welche kein Handy oder Headset aufweist», steht auf der Website von Freakyphone.

Dabei wäre es am einfachsten, zu Hause aufs Sofa zu liegen und jemanden anzurufen. Von Fixnet zu Fixnet, sozusagen. Allerdings kostet das mehr Überwindung, als jemandem ein SMS oder ein Mail zu schicken. Umso intimer ist der Anruf nach Hause geworden. Irgendwie hat man immer das Gefühl, man störe die Person gerade beim Lesen, Kochen, Liebe machen. Jemanden auf ein Handy anzurufen, das hat etwas viel Unverbindlicheres. Man muss ja auch nie fragen: «Wie gehts?», sondern nur: «Wo bisch?» Auch in den Filmen rufen sich die Menschen ständig aufs Mobile an. Und sind lang weiliger geworden, weil im Notfall eh jeder jeden erreicht. Und bevor im Film eine Liebesgeschichte richtig in Gang kommt, wird sie durch ein fieses SMS schon wieder beendet.

Digitale Entschlackung

Dabei hätten ja so viele Leute Freude, man würde sie zu Hause anrufen. Die Sängerin Nella Martinetti etwa stand ihr Leben lang im Telefonbuch. Rief man sie an, nahm sie in ihrem Wohnzimmer in Jona jeweils nach dem zweiten Klingeln ab. Und plauderte fröhlich drauflos. Jean Ziegler, immerhin im Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrates und einst im Direktkontakt mit Gaddhafi, konnte man bis vor Kurzem zu Hause anrufen, wenn man etwas wissen wollte. Jetzt steht seine Nummer nicht mehr im Telefonbuch. Vielleicht haben ihn alle nach Gaddhafis Nummer gefragt.

Ganz bewusst Leute zu Hause anzurufen, das hat sich kürzlich ein Kollege vorgenommen. Er hat sich «digital entschlackt» und sein Facebook-Konto gelöscht. Auch hat er ­genug vom SMS-Verkehr im Stil von «Kommst rüber TV gucken?» (um 2 Uhr morgens!) oder «Tut mir leid, dass deine Oma tot ist. Scheisse.»Am Anfang seien die Freunde erschrocken. «Ist etwas passiert? Woher hast du meine Nummer?», fragten sie ihn, als er sich meldete. Nachdem sie sich beruhigt und sich erinnert hatten, dass sie im Telefonbuch stehen, begannen sie zu reden. Und zu reden. Und zu reden. Ohne Unterbruch: kein Tunnel, kein Zahlmoment an der Supermarktkasse, keine Verkehrssituation störte das Gespräch. «Es war voll der Fixnet-Moment. Es war voll nett.»

Claudia Schmid ist Redaktorin bei der «SonntagsZeitung».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04/11/11

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