Der Fifa-Boss spielt mit dem Feuer

Sepp Blatter fühlt sich vom bisherigen Verlauf der Fussball-WM in Brasilien so beflügelt, dass der Fifa-Präsident sich offenbar zu einer verbalen Provokation hat hinreissen lassen. Und die ist nicht ungefährlich. «Wo ist sie denn geblieben, die soziale Unzufriedenheit? Wo sind denn jetzt die grossen Proteste?», höhnte Fifa-Boss Sepp Blatter am Donnerstag in Rio de Janeiro. […]

FIFA-Präsident Sepp Blatter provoziert mit einer pikanten Aussage in Sao Pauolo brasilianische Regierung – und vor allem Favela-Bewohner.

Sepp Blatter fühlt sich vom bisherigen Verlauf der Fussball-WM in Brasilien so beflügelt, dass der Fifa-Präsident sich offenbar zu einer verbalen Provokation hat hinreissen lassen. Und die ist nicht ungefährlich.

«Wo ist sie denn geblieben, die soziale Unzufriedenheit? Wo sind denn jetzt die grossen Proteste?», höhnte Fifa-Boss Sepp Blatter am Donnerstag in Rio de Janeiro. Zumindest wird er heute so von «Folha«, der grössten Tageszeitung Brasiliens, zitiert. «Wenn er das tatsächlich gesagt hat», empört sich Antonio Costa von der NGO Rio de Paz, «dann könnte er ernste Schwierigkeiten bekommen.»

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Tatsächlich ist die Aussage Blatters, der im Luxushotel an der Copacabana residiert, eine Frechheit. Er könnte zu Fuss einige Schritte auf der Hinterseite seines Hotels rausgehen und die sozialen Probleme in den Favelas gleich hinter der Fifa-Zentrale an der Copacabana sehen und erleben. Unter der schönen Fassade der WM, dauert der Krieg («urban war») in den Favelas die ganze Zeit über an.

«Keine Zeit» für Favela-Besuch 

Die NGO Rio de Paz hat Sepp Blatter persönlich eingeladen, eine der Favelas in unmittelbarer Nähe zum Maracana-Stadion zu besuchen. Die PR-Leute der Fifa haben den Rio de Paz Präsidenten über Wochen mit freundlichen Worten hingehalten. Anders als das holländische Nationalteam, hat der Fifa-Boss aber «keine Zeit gefunden», eine Favela zu besuchen. Aber ein Urteil hat er sich erlaubt: «Wo ist sie denn geblieben, die soziale Unzufriedenheit.»

Dass es in den und um die Favelas hier in Rio, abgesehen von den paar Toten, relativ ruhig geblieben ist, verdankt die Fifa vor allem der brasilianischen Regierung auf Zentral- und Provinzebene. Sie hat die von den Drogenkartellen kontrollierten Favelas im Bereich der Fussball-WM zunächst durch die Armee besetzen und anschliessend von der «Befriedungspolizei» UPP (Unidades de Policia Pacificadora) bewachen lassen. Zuletzt geschah das kurz vor der WM noch mit den Favelas, welche am Weg von Flugplatz bis zum Stadtzentrum, dem Maracana Stadion und den Vorzeigestränden Copacabana und Ipanema liegen.

Die «Szenenkenner» in den Favelas sind überzeugt, es habe vor der WM einen Deal gegeben zwischen den staatlichen Sicherheitsbehörden und den Drogenbossen im Gefängnis.

Viele wichtige Bosse der Drogenkartelle sitzen hinter Gittern, was aber noch lange nicht heisst, dass sie in den Favelas nicht immer noch die Fäden ziehen. Noch kurz vor der WM haben sie den Sicherheitskräften mit ein paar gezielten Attacken auf die UPP ihre Macht demonstriert.

Die «Szenenkenner» in den Favelas sind überzeugt, es habe vor der WM einen Deal gegeben zwischen den staatlichen Sicherheitsbehörden und den Drogenbossen im Gefängnis. Eine Angebot des Staates an die Drogenbosse: «Wenn ihre stillhaltet für die Dauer der WM, könnt ihr ruhig schlafen; wenn ihr eure Kettenhunde schon während der WM loslasst, machen wir euch persönlich das Leben hier im Gefängnis zur Hölle.»

«Hilf uns Gott, dass Brasilien nicht verliert»

Wie die Bewohner der Favelas, sind auch die Drogenbosse grosse Fussballfans, Brasilienfans. Die Leute von Rio de Paz in der Favela Jacarezinho, einige von ihnen selbst lange Jahre im Drogengeschäft, haben fast panische Angst davor, dass das brasilianische Team am Freitag im Viertelfinale gegen die Kolumbier verlieren wird. «Dann», sagen sie, «wird es richtig gefährlich.» Sie fürchten, der Frust der Fans, Krimineller und anderer werde sich entladen und sich verbinden mit dem seit Monaten aufgestauten Gewaltpotential des Kriegs der Drogenbanden untereinander und gegen die Polizei. Die Polizeieinheiten in den Favelas sind viel zu schwach, um sich grösserer Aktionen der Drogenbanden zu widersetzen.

Viele Favelabewohner reden mit grosser Verachtung von der Polizei. Es hat zahlreiche Übergriffe der Polizisten gegenüber der Bevölkerung gegeben, und Favelabewohner sagen, die Polizei habe inzwischen einen Teil des lukrativen Drogenhandels selbst übernommen.

Ob die Drogenbosse in den Gefängnissen nach einer Niederlage Brasiliens ihr Leute draussen noch an der Leine halten können oder wollen, sei mehr als fraglich, betonen Szenenkenner, welche auch «Ohren in den Gefängnissen» haben. «Hilf uns Gott, dass Brasilien nicht verliert», sagen sie oder: «Möge er uns zumindest helfen, dass wir nicht recht behalten.»

Blatters Giftpfeil

Wenn es aber passiert – nach einer Niederlage Brasiliens am Freitag oder im Halbfinale nächste Woche – wird Fifa-Boss Blatter einen Teil der Verantwortung für die Katastrophe übernehmen müssen. Sein blödsinniges «Wo ist sie denn, die soziale Unzufriedenheit» ist für Viele hier eine Provokation. Und als Provokation war Blatters Äusserung am Donnerstag wohl auch gedacht. Allerdings nicht für die Menschen in den Favelas, sondern für die brasilianische Regierung. Blatter hat sie zwar in die Watte eines Lobs gepackt, bisher sei «alles optimal gelaufen».

Aber der Giftpfeil gegen die Regierung ist für viele Brasilianer spürbar. Dass das Verhältnis zwischen der Regierung und der Fifa schlecht ist, ist hier in Brasilien ein offenes Geheimnis. Der Regierung um Präsidentin Dilma Rousseff ist wohl schon im Verlaufe der Vorbeitungen für die WM bewusst geworden, worauf sie sich da eingelassen und was sie im Bewerbungsprozess alles blind unterschrieben hat.

Dass die brasilianische Staatsanwaltschaft in diesen Tagen einen grossen Ticketbetrugsskandals auffliegen liess, in den die Fifa offenbar direkt verwickelt ist, interpretieren viele Brasilianer als Racheakt der Regierung an der Fifa. Offenbar hat sie Tausende von Telefonen der Fifa abhören lassen – und jetzt die Bombe platzen lassen. Zu einer Beruhigung der gefährlich-aggressiven Stimmung in Teilen der Bevölkerung gegen die Fifa trägt diese Bösartigkeit der Regierung nicht bei. Und die fahrlässige Aussage Blatters – offenbar eine spontane Reaktion des beleidigten Fifa-Bosses – ist dazu geeignet, das Feuer weiter anzufachen.

Noch überwiegt das Fussballfieber

Bleibt noch Blatters Zusatz «Wo sind sie denn jetzt, die grossen Proteste», dem er wohl im Stillen noch «mit denen ihr uns gedroht habt», beigefügt hat: Tatsächlich ist es bisher nicht, wie von vielen erwartet, grosse Demos gegen die Fifa gegeben. Die Chaoten vom Schwarzen Block haben zu Beginn der WM in Sao Paulo zwar versucht, den Funken mit ersten Protestaktionen zu zünden. Aber er ist nicht übergesprungen. 

Die meisten Organisationen und losen Gruppen, die für Grossdemos genau vor einem Jahr gesorgt haben, mögen den Schwarzen Block nicht. Sie haben, wie zum Beispiel Rio de Paz, schon früh erklärt, sie wollten die WM nicht blockieren. Sie haben dazu aufgerufen, den Fussballfans aus aller Welt die Gastlichkeit Brasiliens zu demonstrieren und insbesondere keine gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei zu provozieren.

Kleinere, friedliche Demos gab es viele. Rio de Paz hat mehrere durchgeführt, auch wenn die von den mitfeiernden Medien höchstens am Rande mal erwähnt wurden. Vor allem fiebern die meisten Brasilianer mit ihrer Mannschaft und haben keine Lust, jetzt auf die Strasse zu gehen – jedenfalls solange nicht, wie Brasilien noch im Rennen ist.

Redet in der Schweiz eigentlich irgendjemand über Blatters Ungeheuerlichkeit?

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