Jim Morrison, Sänger von The Doors, starb jung und wurde zur Rockstar-Legende. Dabei verstand er sich seit seinen Teenagertagen in erster Linie als Dichter. Jetzt werden seine letzten Notizen und Gedichtfetzen versteigert.
Mit seinem Tod am Morgen des 3. Juli 1971 in einer Badewanne in Paris war die Legendenbildung des Jim Morrison vollzogen. Morrison, 27 Jahre alt, liess seine Band The Doors zurück, die in den Sechziger Jahren sechs Alben lang mit trunkenen Orgelläufen und psychedelischem Blues den US-Rock nachhaltig erschütterten – und auch die amerikanische Gesellschaft.
Morrisons auch auf der Bühne exerzierter Drogenkonsum, seine Bekenntnisse gegen den Vietnamkrieg und gegen die verkrustete, bigotte Wertekonstellation der Babyboomer-Dekade sorgte für Medienspektakel und Verhaftungen am Bühnenrand, sein früher Tod machte Platz für den Mythos: spätestens Oliver Stones Filmversion schnürte Morrison als einen der Entrückung entgegen tänzelnden Hippieschamanen fest.
Eine andere, weniger aufsehenerregende Hinterlassenschaft Morrisons kommt in wenigen Tagen unter den Hammer: sein Notizheft. Die Memorabilienfirma Profiles In History versteigert am 18. Dezember in Los Angeles seine bisher unveröffentlichten Notizen, Gedichtfetzen und ästhetischen Theorieskizzen aus seinen letzten Lebensmonaten, verstreut auf rund 100 handbeschriebenen Seiten. Das Heft wurde vom britischen Musiker Graham Nash zur Auktion freigegeben.
Versteigerungspreis von 300’00 Dollar
Erhalten hatte er es von seinem Manager Bill Siddons, der von 1968 bis 1972 auch The Doors managte und Morrisons Bestattung organisierte. Eine Sprecherin von Profiles In History bezeichnete die Aufzeichnungen als «bizarr» und ohne Erläuterungen des Autors als «kaum entschlüsselbar», jedoch ebenso als «grösstmögliche Annäherung an das Denken von Jim Morrison vor seinem Tod». Für den Markt der Rock’n’Roll-Memorabilia handle es sich um eines der spektakulärsten Nachlässe – erwartet wird ein Versteigerungspreis von rund 300’000 US-Dollar.
Die Summe ist deshalb so hoch, weil Morrison nicht nur als expressiver Rocksänger gilt, sondern hinter dieser Oberfläche sich primär als Dichter mit einer visionär-poetischen Einbildungskraft verstand. Prägend für Morrison war der französische Lyriker Arthur Rimbaud, dem in seinem kurzen Leben von 1854 bis 1891 eine Dichtung als «lange, unermessliche und planmässige Entregelung aller Sinne» vorschwebte, wie er 1871 in seinem Briefverkehr festhielt. Der Dichter als «Seher», als wortwörtlicher Visionär, den es – in Rimbauds Fall von dem Absinth geschuldeten Rauschzuständen – ekstatisch in bisher unzugängliche Regionen der menschlichen Vorstellungskraft und Erkenntnis trieb, war ein Verständnis des Poetendaseins, das bei Morrison auf Resonanz stiess: 1968 schrieb Morrison an Wallace Fowlie, Professor für Französische Literatur und Übersetzer der Werke Rimbauds, in einem Brief: «Ihre Bücher sind immer bei mir.»
Wie tief die geistige Verwandtschaft zwischen Rimbaud und Morrison in der Lyrik der beiden erkennbar sein musste, hat Fowlie nach Morrisons Tod selbst erkannt: Jahre nach Morrisons Tod veröffentlichte er «The Rebel As A Poet», eine Vergleichsstudie der Poetik von Rimbaud und Morrison, die dieser besonderen Einflusslinie von symbolistischer europäischer Lyrik des Fin de Siècle auf amerikanische Rockmusik auf den Grund ging.
Freiheit und Befreiung
Man konnte das schon in den letzten Doors-Jahren nachlesen: 1970 erschienen gesammelt seine ersten beiden Lyrikbände «The Lords & The New Creatures», die Morrisons poetisches Schaffen erstmals losgelöst von der Tragfläche der Doors-Songs vorstellten. Morrison, der als Teenager sich erstmals mit der Erzählkultur indianischer Stämme befasste, satirische Gedichte schrieb und von der Literatur der Beat-Generation stark beeinflusst war, verstand die im Gedicht, im Lied festgehaltene Sprache als Kunstform, die am dauerhaftesten menschliche Erfahrungsschätze transportieren könne. In einem Interview mit der Zeitschrift «Rolling Stone» sagte er 1969, «seit es Menschen gibt, können sie sich Wörter und Wortkombinationen merken. Nichts kann einen Holocaust überleben ausser Gedichten und Liedern. Keiner kann sich einen ganzen Roman merken. Niemand kann einen Film, eine Skulptur, ein Gemälde beschreiben. Aber solange es Menschen gibt, können Lieder und Gedichte weiterleben.»
Und in seiner Gedichtsammlung «Wilderness», 1988 erschienen, hielt er fest: «Wenn meine Dichtung auf irgendetwas abzielt, dann darauf, die Menschen aus den Zwängen zu befreien, innerhalb derer sie sich sehen und fühlen.»
Freiheit und Befreiung waren die grossen Themen des Dichters Morrison, und sie waren nicht nur spirituell und eskapistisch zu verstehen. Darin glich er seinen literarischen Vorbildern wie etwa William Blake, von dem er für «End Of The Night» ganze Textzeilen übernahm und der als literarischer Rebell sozialreformatorische Ideen verkündete. 1970 veröffentlichte Morrison im Eigendruck den Gedichtband «An American Prayer», der sieben Jahre nach seinem Tod von den übriggebliebenen The Doors vertont wurde.
Von Friedrich Nietzsche beeinflusst
«An American Prayer» war Morrisons grosses poetisches Epos zu seinem Heimatland, das ebenso politisch mit Vietnam, der Landnahme und der Bürgerrechtsbewegung abrechnete, als auch sich mit dem menschlichen Bedürfnis nach Mythenbildung, nach Symbolkraft und Überhöhung als Kur gegen die Todesangst auseinandersetzte. Diese Stränge waren bereits in Morrisons Songtexten sichtbar geworden, etwa in der Antikriegsklage «The Unknown Soldier», das wiederum in seine Kindheit führt, zu seinem in der Armee aufgestiegenen Vater, zu dem Morrison den Kontakt komplett abgebrochen hatte.
So ist «An American Prayer» nicht nur als Gedichtwerk zu lesen, sondern auch als poetische Analyse der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit. Stark beeinflusst war Morrisons von seinem «Hausphilosophen» Friedrich Nietzsche, von dessen «Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» er in seiner Verehrung für den dionysisch-expressiven Ausdruck der Poesie ebenso geprägt war wie vom bildstarken Predigerton von «Also sprach Zarathustra» und der Figur des Übermenschen. «The Lords & The New Creatures», sein erster Gedichtband, kündete bereits im Titel davon.
Schwäche für den Rausch
Diese Veröffentlichungen zeigen, dass Morrison seine Dichtung keineswegs nur aus spontanen Eingebungen im Zustand der Ekstase schöpfte, wie es das Konzept des Dionysischen vermuten liess (und wie Morrison, auch durch Oliver Stones Film, verengt überliefert wurde), sondern als belesener Texter eindeutigen literarischen Vorstellungen folgte. Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Thomas Collmer hat in «Pfeile gegen die Sonne» die Einflüsse des Dichters Morrison, seine intellektuelle Biografie und deren kulturgeschichtlicher Horizont abgearbeitet.
Collmer begriff in seiner Studie den Doors-Sänger als «repräsentativen Poeten seiner Zeit, der exemplarisch ihre Widersprüche ausgedrückt hat.» Morrison sei dies gelungen, weil er zwei Prinzipien mit bedingungsloser Konsequenz befolgt habe: «Sein Leben mit grösstmöglicher Intensität leben und so weit wie möglich eine im eigenen Wesen angelegte Fähigkeit visionär-poetischer Imagination entwickeln.» Morrisons Visionssprache, der Romantik verdankt, metaphernreich verschlüsselt und kaum begreifbar, werden in der Rückblende in der Regel als deliriöse Folge seines exzessiven Drogenkonsums verstanden. Tatsächlich diente genau diese sich sprachlogischen Konventionen widersetzende Sprache Morrisons Vorstellung von Poesie zu, Menschen zu befreien: Aus der rationalen, ergebnisorientierten Funktionalität, deren Verwertbarkeit auch Sprache, zum Kommunikationsvehikel reduziert, unterworfen ist.
Morrisons Dichtung endete mit seinem frühen Tod und blieb, würde man eine weitergehende Biografie vorausahnen, nur als Frühwerk erhalten. Jedoch hatte sie wahrscheinlich bereits vor seinem Tod an Kraft genommen. Zu diesem Schluss kommt eine psychotherapeutische Studie der Universität Heidelberg vom letzten Monat. Auf der Basis von Morrisons Werkfülle sieht die Studie seinen dichterischen Verlauf als Beleg dafür, wie übermässige Rauschzustände das «assoziative Denken» und die «Fähigkeit, Inspirationen auszuarbeiten», beeinträchtigen bis – je nach Dosis – komplett behindern würden. Darin zeigt, folgt man der Studie, die bittere Paradoxie des Dichters Morrison, der weit vor der Vollendung starb: Dieselbe zügellose Schwäche für den Rausch, die seine Kreativität verkümmern liess, schaufelt ihm noch heute, 70 Jahre nach seiner Geburt, über 40 Jahre nach seinem Tod und mythisch überhöht, die neuen Generationen von Fans heran.