Der Schweizer Film in Locarno: Kleinere und grössere Katastrophen

Am Filmfestival in Locarno brillieren auch inländische Produktionen. Der Schweizer Film zeigt sich in den internationalen Programmen mit Schwung. Jung. Schräg. Besorgt. Mit kleinen und grossen Katastrophen. Der Schweizer Film tritt fett auf in Locarno. 18 Produktionen mit Schweizer Beteiligung sind zu sehen. Dabei reicht der Anteil an der Herstellung vom Schnitt bis zur Ko-Produktion. […]

«Heimatland», der Film der Teamplayer

Am Filmfestival in Locarno brillieren auch inländische Produktionen. Der Schweizer Film zeigt sich in den internationalen Programmen mit Schwung. Jung. Schräg. Besorgt. Mit kleinen und grossen Katastrophen.

Der Schweizer Film tritt fett auf in Locarno. 18 Produktionen mit Schweizer Beteiligung sind zu sehen. Dabei reicht der Anteil an der Herstellung vom Schnitt bis zur Ko-Produktion. Nicht alle diese Filme sind in der Schweiz produziert. Nicht allen wohnen Schweizer Themen inne. Aber viele glänzen mit Esprit.

Der Prolog 

Wie ein Prolog stand Matthias Günther mit «Wintergast» vor allen Schweizer Beiträgen:«Wintergast» lässt den Filmnovizen Stefan Keller (gespielt und improvisiert von Andy Herzog) seinen Film erst einmal in der Schweiz vorbereiten. Er sucht für seinen Film Produzenten, Geld, Mitarbeiter und – Sinn. Wir sehen einen Film über die Entstehung von Film in der Schweiz.

Der Regisseur als Einzelkämpfer Andy Herzog in 'Wintergast'

Der Regisseur als Einzelkämpfer. Andy Herzog in ‚Wintergast‘

Wie sieht der Alltag all jener Jungfilmer – den noch unbekannten Steiners, Domenigs, Krummenachers, Gassmanns, Blatters, Freis etc. – aus, die die Schweiz bereisen auf der Suche nach Geld und Geist, um Filme zu machen. Einen Produzenten findet der Jungspund Keller rasch, auch Coaches, die viele Tipps (oft auch Geld) geben, ebenso wie Stiftungen zuhauf, die bald mehr Personal angestellt haben als es in der Schweiz Filmemacher gibt – und Sinn …

«Wintergast» steht als prächtiges schwarzweisses Vorspiel zu den farbigen Schweizer Beiträgen in Locarno. Endlich findet der fiktive Regisseur seinen Sinn im Leben: Seine Freundin will Mutter werden. Schliesslich stösst er beim «Türsteher» von Franz Kafka auf seinen Schlüssel-Gedanken: Wer zu lange am Augenblick festhält, entscheidet zu spät – und verpasst seinen Film. Dies ist, am Ende eines schön fotografierten Schwarz-Weiss-Filmes, eine hübsche Pointe zu Locarno: Film ist  – nicht zuletzt – das Festhalten eines besonderen Augenblicks.

Der erste Akt: Die kleinen Katastrophen

Gleich zum Auftakt von Locarno setzten junge Schweizer Beteiligte in «Keeper» für Locarno ein erstes Ausrufezeichen: Der Belgier Guillaume lässt als Regisseur in seiner Liebesgeschichte «Keeper» Kacey Mottet Klein spielen («Home» und «Winterdieb»).

Dabei spielt die junge Schweizer Schauspielerhoffnung den Teenager Maxime, der mit einem Mal einer kleinen Katastrophe gegenübersteht: Er wird Vater. Maxime – erst fünfzehn – will das erst gar nicht. Er kennt die Mühen eines Vaters mit Kindern nur zu gut. Er ist selber der noch pubertierende Sohn eines Vaters.

'Keeper': Kacey Mottet Klein als Vater mit Vater

‚Keeper‘: Kacey Mottet Klein als Vater mit Vater

 

Klein vertritt als Schauspieler die jungen Schweizer Hoffnungen im Wettbewerb von Locarno, die es nicht nur auf der Regie-Seite gibt. Joel Basman ist ein weiterer Akteur, der bereits international Fuss gefasst hat. Er spielt in «Amnesia» von Barbet Schröder zwar nur eine Randfigur. Aber sein DJ ist in dieser Schweizer Produktion Vertreter der Generation der Enkel.

Basman spielt einen Deutschen, wiederum neben Max Riemelt, der die deutsche Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs unverkrampft erfahren will.

In der Schweizer Produktion der Vega-Film spielt die unwiderstehliche Marthe Keller ebenfalls eine – ausgewanderte – Deutsche und liefert einen starken Schweizer Unterton in dieser deutschen Geschichte – mit Bruno Ganz, der als Opa mit der deutschen Amnesie kämpft. Dieser Beitrag des Altmeisters Barbet Schröder, der schon in Cannes lief, ist allerdings sehr dem filmischen Gestern verpflichtet: Was für ein Theaterrührstück gereicht hätte, bleibt trotz Einsatz der jungen Generation in Form und Inhalt – von gestern.

Der zweite Akt: Die Schweizer Katastrophe

So steuert erst im zweiten Akt der Schweizer Film in Locarno auf seinen überraschend frühen Höhepunkt zu. Zehn Jungregisseure und Jungregisseurinnen besichtigen ihr «Heimatland». Der Titel allein schon verspricht Biss.

Wenn ein Regieteam von der Grösse eines Fussballteams für einen «Bericht zur Lage der Nation» zum Genre des Katastrophenfilms greift, darf man viel Frechheit, Tiefsinn und einige scharfe Freistösse erwarten. Tatsächlich:

Die Jungen, die dieses Heimatland in 70 Jahren noch bewohnen wollen, zeigen Haltung, und greifen gleich in Mannschaftsstärke an: Lisa Blatter, Gregor Frei, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller, Jan Gassmann und als Koordinator: Michael Krummenacher, haben gemeinsam einen Katastrophenfilm erfunden.

Ihr Verdikt ist erst einmal eindeutig: Wir sind für den Ernstfall schlecht vorbereitet. Ein bisschen viel Wind macht uns schon arg zu schaffen.



'Heimatland', der Film der Teamplayer

‚Heimatland‘, der Film der Teamplayer

Katastrophen bringen normalerweise mit einem Knall an den Tag, was im Alltag kaum sichtbar wird: Unsere Ängste um soziale Risse, Einkommensscheren, Mauerrisse, Versorgungslücken, Ehebrüche, Finanzblasen. Tut das die Katastrophe in «Heimatland» auch?

Eine mysteriöse Wolke braut sich über der Schweiz zusammen. Da die Wolke just an der Grenze aufhört, wird rasch klar: Die Macher meinen es ironisch. Und die Ironie hat eigentlich Biss.

Die Kommission für AC-Schutz (KAC) des Bundes verzichtete nach dem 28. April 1986 nach dem Fallout von Tschernobyl auf Information, im Gegensatz zu den Massnahmen in den umliegenden Ländern. «Strenge Massnahmen hätten (…) das Gefühl hervorgerufen, dass die Lage schlimm sein muss.» Der Experte, der das sagt, sass damals einen Monat lang in einem eidgenössischen Bunker. Seine Schuhsohlen waren radioaktiv verstrahlt. Nur im Kanton Tessin meldete man in jenen Tagen Werte aus der Wolke über Europa. Aber nicht so schlimm wie 500 Meter weiter, in Italien.

Ein Katastrophenfilm ohne Retter

Wie die Wolke 1986 das Heimatland ausserhalb überflogen haben soll, so fliegt sie 2015 in «Heimatland» – nur innerhalb der Schweiz, bis zur Grenze. Das reicht für Satire. Aber für einen Katastrophenfilm? Braucht es einen Retter? Ein Familienvater, eine mutige Mutter oder ein Bösewicht – jeder könnte in diesem Apokalypse-Fall zum Helden werden.

«Heimatland» will keine Retter, auch wenn die Episoden Figuren bieten, die das Zeug zu Helden hätten: Tatsächlich rekrutiert ein urplötzlicher Urschweizer Dorfpolitiker Widerstandstruppen, die sich selber zu Rettern ernennen. Auch ein Zürcher Taxifahrer vom Balkan (Dashmir Ristemi), der stolz ein zu grosses Trinkgeld eines Kunden ablehnt, hätte das Zeug zum Helden.

Selbst der zynische Bündner Puff-Kunde (Peter Jecklin), der das fette Trinkgeld geben will, entwickelt sich fast noch zum Guten. Und auch die Zürcher Polizistin, die als Aussenseiterin ihren Notdienst versieht, stellt sich als mögliche Action-Heldin vor – vergeblich. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. 

Gemeinsam sind sie stark

Die zehn Filmer beeindrucken mit ihrer Mannschaftsleistung. Sie haben eine gemeinsame Bildsprache gefunden. «Heimatland» verbindet geschickt geschnitten lose Episoden. Die Dialoge (Schüler-Impro-Niveau) und die Dramaturgie der überladenen Teilchen (eine Exposition folgt der anderen) vermögen allerdings auch die guten Schauspieler (Viola von Scarpetti, Peter Jecklin, Dashmir Ristemi, Julia Glaus u.a.) nicht zu retten.

Aber immer wieder blitzt auf, was das Regieteam reklamiert: Haltung. Wenn die Bewohner im Schlussbild, am Ende der Reise der Hoffnung, das Land verlassen wollen, gleicht das Bild jenem, das wir aus «Das Boot ist voll» kennen. Es findet auf der Grenzbrücke statt. Nur ist 2015 alles umgekehrt: In «Heimatland» gewährt Europa seinen Bürgern Einlass. Nicht aber den Schweizern.

«De Jugo dörf??!»

Da bietet der Film für einmal nicht nur viel Wind. Sondern etwas Biss. So hinterhältig hätte der ganze Film ruhig öfter mit seinem Genre spielen können: Vielleicht hätte auch Fredi M. Murers Kunstgriff geholfen, der die Viren-Katastrophe in «Grauzone» damit enden liess, dass das Ganze nur ein Mediengag war – gespielt.

Am Ende ergeben die zehn brillanten Kurzfilmideen nicht einen ebensolchen Langfilm mit Sog, aber einen breiten Bilderbogen – so wie zehn Stürmer auch nicht zwingend auf einen Cup-Triumph zurennen. «Heimatland» eröffnet unzählige kleine Episoden, die das Zeug für eine Katastrophenklimax hätten. Den Drive bezieht der Film aber weniger aus einer intelligent erzeugten Spannung als aus seiner dünnen Ironie.

«Heimatland» ist schmissig. Brilliant gespielt. Eindrücklich fotografiert. Und sorgt dennoch nicht für viel mehr als Wind.



Auf der Suche nach dem japanischen Grossvater: Die atomaren Katastrophen in 'Als die Sonne auf die Erde fiel'

Auf der Suche nach dem japanischen Grossvater: Die atomaren Katastrophen in ‚Als die Sonne auf die Erde fiel‘

Der dritte Akt

Im dritten Akt ist es dann in Locarno wieder der dokumentarische Blick des Schweizer Films, der einnimmt. Mit «Als die Sonne vom Himmel fiel» lieferte Aya Domenig eine Dokumentation über ihren japanischen Grossvater, einen Arzt in Hiroshima, und einen Blick in zwei Katastrophen, die weit über die Schweiz hinausschaut. 

Domenig stösst in ihrem Film nicht nur auf einen lebenslustigen Überlebenden, der die Vertuschungen der CIA nach den Abwürfen der Bomben entlarvt: Sie wird auch von der Wolke der letzten Atomkatastrophe in Japan überrascht, Fukushima. Damit gelingt der Schweizerin weit mehr als ein höchst ergreifendes Familienporträt ihrer japanischen Familie. Sie liefert Pflichtstoff für die Menschheit. Hier beweist eine Dokumentarfilmerin jene Haltung, die einen Film über eine Katastrophe spannend macht.

Ebenso im Zeichen einer Katastrophe steht Jakob Brossmanns «Lampedusa in Winter» (die TagesWoche berichtete). Er sendet frische Bilder von der grössten Katastrophe der Gegenwart, die sich auf der Insel Lampedusa zeigt: Millionen von Flüchtlingen sind in Bewegung. 



Regie-Team als Gruppen-Kämpfer: 'Heimatland'-Party unter der Autobahnbrücke

Regie-Team als Gruppen-Kämpfer: ‚Heimatland‘-Party unter der Autobahnbrücke

Locarno als Film-Fenster der Schweiz

Locarno beweist so erneut, dass es das bedeutendste Filmfestival der Schweiz ist – für alle Generationen von Filmemachern. Bundesrat Alain Berset forderte bei seinem Besuch in Locarno, der Schweizer Film müsse sich auch ausserhalb des Landes mehr Geltung verschaffen. Damit kann er nur die junge Generation meinen. Und darf über die Locarner Umschau erfreut sein.

Das kleine Filmland Schweiz ist in Bewegung: Der Anteil der Schweizer Beteiligungen am europäischen Film wächst, obwohl die Union die Zusammenarbeit mit den Schweizern sistiert hat. Weiterhin finden die Schweizer Filmproduktionen ihre Partner in Europa – oft leichter als in der Schweiz.

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