Der Traum von der gewaltigen Gletschergrotte

Unbekanntes Land entdecken? Der Traum eines jeden Forschers. Und in der Schweiz noch möglich – unter einem Gletscher. Hervé Krummenacher sucht danach. Ein Besuch.

In einer randnahen Grotte setzten Hervé Krummenacher und Frédéric Bétrisey vor fünf Jahren ihre ersten Schritte unter das Eis der Plaine Morte.

(Bild: icecave/ Hervé Krummenacher)

Unbekanntes Land entdecken? Der Traum eines jeden Forschers. Und in der Schweiz noch möglich – unter einem Gletscher. Hervé Krummenacher sucht danach. Ein Besuch.

Wir steigen in den Keller. Wobei Keller, verglichen mit dem Raum am Ende der Treppe, sehr angeschimmelt klingt: Eine grosse Fensterfront zeigt die Freiburger Voralpen. Schnee liegt in den Höhen. Davor durchschneidet die Sarine das grüne Hügelland. Wälder und Wiesen wechseln sich ab. Im Raum befindet sich eine Metall- und Holzwerkstatt, Velo und Ski defilieren an den Wänden, und in Regalsystemen auf Schienen, wie sie sonst in Bibliotheken oder Lagern zu finden sind, lagern alle möglichen Berg-, Tauch- und Höhlenforschergeräte.

Ich bin bei Hervé Krummenacher, der seit seiner frühesten Jugend nach Neuland sucht. Sein Wunsch nach unbetretener Erde wirkt sonderbar anachronistisch in einer Zeit, in der in wenigen Flugstunden oder mit ein paar Mausklicks jeder Ort der Erde erreichbar ist. Entdeckungen scheinen auf winzig kleine Welten oder ins Weltall verbannt, wo sich Land und Strukturen unendlich wiederholen. 

Frédéric Bétrisey, der Dritte im Raum und Jugendfreund Krummenachers, winkt ab: «Das Neuland ist in der Schweiz nur verborgen: unter Wasser, unter Erde, in steilen Schluchten und im Eis.» Auf dem Tisch, zwischen Werkstatt und Voralpenpanorama, breitet er eine Karte aus. Sie zeigt eine riesige, kaum strukturierte Eisfläche in einer gewaltigen Geländemulde. Es ist die Plaine Morte, der grösste Plateaugletscher der Alpen.

Angst vor der Flutwelle

Plateaugletscher heisst genau das, was es heisst: eine riesige, hochalpine Eisfläche, ein Plateau ohne deutlichen Höhenunterschied. Mit Ausnahme einer kleinen Zunge, die sie dem Berner Oberland entgegenstreckt, ist die Plaine Morte deshalb auch spaltenfrei. Eine geschlossene Eisdecke von über acht Quadratkilometern. «Nicht ganz», betont Fred und zeigt auf blau markierte Bereiche auf der Karte. Es sind die möglichen Eintrittsstellen in den Gletscher. «Aber beginnen wir am Anfang.»



Die geschlossene, unstrukturierte Oberfläche lässt kaum vermuten, dass sich darunter ein Labyrinth aus Eishöhlen befindet.

Die geschlossene, unstrukturierte Oberfläche lässt kaum vermuten, dass sich darunter ein Labyrinth aus Eishöhlen befindet. (Bild: Aeby Daniel)

Es war im Jahr 2011, als die totgesagte Ebene zum ersten Mal auf ihr Innenleben aufmerksam gemacht hat. Zu spüren bekamen das vor allem die Bewohner des kleinen Feriendorfs Lenk, die  direkt unter dem Gletscher leben und über die sich in diesem Spätsommer eine plötzliche Flutwelle aus dem Gletscher ergoss.

Jedes Jahr bildet sich in den Sommermonaten im östlichen Gletscherteil ein Schmelzwassersee, der Favergesee. Er entsteht, weil der winterliche Schnee wie ein Pfropfen die Abflüsse im Gletscher versperrt. Als der Gletscher noch höher war, überlief der See bereits nach kurzer Zeit südseitig in steilen Bergbächen ins Wallis. Das Gelände auf dem Satellitenbild zeugt noch immer davon. Doch seit 2011 ist der Gletscher so stark gesunken, dass der saisonale See, bevor er über den Bergkamm reicht und sich langsam entleeren kann, so gross wird, dass sein Druck die Schneepfropfen verdrängt und sich alles Wasser innert kürzester Zeit durch die unterirdischen Gletscherhöhlensysteme ins Simmental bei der Lenk entleert.

Der saisonale See wächst schnell – in nur fünf Jahren hat sich sein maximales Volumen auf zwei Millionen Kubikmeter verdreifacht – und die Flutwelle bedroht die Gemeinde Lenk von Jahr zu Jahr stärker. Den Rekordabfluss von bisher 20 Kubikmetern pro Sekunde kann der obere Lauf der Simme nur für eine kurze Zeit aufnehmen. Was den Einwohnern der Lenk schlaflose Nächte bereitet, lässt Hervé und Fred träumen. «Wenn der See mit einer Geschwindigkeit von 20 Kubikmetern pro Sekunde abläuft, muss in seinem Innern eine gewaltige, zentrale Grotte liegen.»

Gefährlicher Einstieg ins Eis

Matthias Huss, Glaziologe der Universität Fribourg, bestätigt diese These. Und er fügt hinzu, dass der rasche Abfluss eine geläufige Annahme unter Gletscherforschern widerlegt. Bisher wurde angenommen, dass sich die Abflusskanäle im Winter durch den Druck vollständig schliessen und erst im Frühjahr durch die grossen Schmelzwassermengen neu gebildet werden.

«Unser Wissen über das Innenleben von alpinen Gletschern beruht fast vollständig auf Modellen und Annahmen. Das Betreten ist ausserhalb der arktischen Zonen, wo das Wasser im Winter vollständig gefriert, sehr gefährlich.» Er spricht von einer Art ganzjährigem Grundwasserspiegel im Eis, der ein Betreten zum russischen Roulette mache. «Was wir wissen, ist, dass die meisten dieser Gletscherhöhlen ganzjährig mit Wasser gefüllt sind.»



«Die Neugier treibt uns zwar in erster Linie an, doch die Schönheit des Eises ist ähnlich fesselnd.»

«Die Neugier treibt uns zwar in erster Linie an, doch die Schönheit des Eises ist ähnlich fesselnd.» (Bild: icecave/ Hervé Krummenacher)

Freds Kugelschreiber zeigt auf die blaue Fläche am Abfluss des Favergesees. «Das ist der grösste Eingang in den Gletscher.» Auch wenn die beiden davon träumen, eines Tages in diese zentrale Höhle vorzudringen, «vielleicht sogar den gesamten Gletscher zu durchqueren» – die Carbon-Tauchflaschen liegen im Schienenregal –, ist die Zeit dafür noch nicht gekommen.

Sowohl Fred wie auch Hervé sind zweifache Familienväter. Auf den Waagschalen liegt die Faszination des Unbekannten der Verantwortung für das Vertrauteste gegenüber. «Russisches Roulette liegt nicht drin.» Ein Stockwerk über uns ist das lachende Herumtollen der Kleinen zu hören. Jeden Donnerstagabend bei gutem Wetter geht Hervé mit ihnen an den Fluss runter. Sie machen ein Feuer und schlafen in seinem Schein am Wasser.

Die Plaine Morte – der perfekte Gletscher

Doch das Gefährlichste am Unbekannten ist, dass nichts darüber bekannt ist. Aus diesem Grund tasten sich die beiden langsam vor. Lernen den Gletscher kennen. Nicht zuletzt die Wahl des Gletschers gehört zu diesem Herantasten.

Fast alle Alpengletscher haben wahrscheinlich ein ähnliches Abflusssystem, würden sich demnach für Hervés und Freds Pläne eignen. Doch die Plaine Morte hat zwei entscheidende Vorteile, die Fred am Beispiel seiner ersten Erkundungstouren vor mehr als 15 Jahren am Gornergletscher bei Zermatt erklärt: «Die gewaltigen Steilhänge über ihm erzeugen dort zu jeder Jahreszeit grosse Schmelzwassermengen, die durch den Gletscher ins Tal fliessen. Dieser ist zudem steil und grossen Bewegungen unterworfen. Das erlaubt lediglich ein sehr begrenztes Eindringen.»



Je weiter Hervé und Fred in den Gletscher eindringen, desto öfter werden sie auf geflutete Schächte treffen

Je weiter Hervé und Fred in den Gletscher eindringen, desto öfter werden sie auf geflutete Schächte treffen (Bild: icecave/ Hervé Krummenacher)

Die fehlenden Steilhänge und die flache Topografie der Plaine Morte führen deshalb dazu, dass ihr Wasserhaushalt einfacher vorherzusehen ist. Träge, fast unbeweglich liegt sie also in der Sonne und bietet so die Möglichkeit, ihr Innenleben relativ gefahrlos, Stück für Stück, kennenzulernen.

Entdecken oder der Erste sein

Im Westen des Gletschers sind auf der Karte vor uns auf dem Tisch kleine blaue Zonen eingezeichnet. Ein genauerer Blick zeigt dort dunkle Punkte im Weiss. Es sind Gletschermühlen: senkrecht abfallende Abflusslöcher im Eis, die oberflächliche Gletscherflüsse geschaffen haben. Zwischen 30 und 50 Meter tief hat sich das Wasser ins Eis gefressen.

Dort sind Hervé und Fred mit einigen Freunden im Spätherbst 2012, als kein Schmelzwasser mehr die Flüsse nährte und der Schnee noch nicht die Zugänge versperrte, zum ersten Mal eingestiegen. Senkrecht in den Gletscher steigen heisst, sich nicht unter das Eis zu begeben. Ein Ausstieg ist schnell möglich, da weder wassergefüllte Gänge durchtaucht oder -schwommen noch Steilstufen oder Engstellen im horizontalen Gangsystem überwunden werden müssen. Es reicht, mit Steighilfen den Fixseilen entlang senkrecht an die Oberfläche zu klettern.



Gletschermühlen sind kreisrunde Öffnungen zur Innenwelt des Eises, welche Schmelzwasserbäche geschaffen haben.

Gletschermühlen sind kreisrunde Öffnungen zur Innenwelt des Eises, welche Schmelzwasserbäche geschaffen haben. (Bild: Bochud Martin)

Gletschermühlen werden an unterschiedlichen Gletschern bereits seit einiger Zeit erkundet. So hat ein Trupp Engländer im selben Jahr ähnliche Untersuchungen in den Mühlen des Gornergletschers bei Zermatt unternommen. An den Anfang ihres vielfach publizierten Berichts stellten sie die Worte: «Ice caves as yet unseen by any explorer». Das sagt, wie der Rest des Texts, fast mehr über das Verständnis des Entdeckens als über das Entdeckte selbst aus. 

Fred stieg bereits 1996 in dieselben Mühlen – sofern man bei einem fliessenden Gletscher von «denselben» sprechen kann – und vor ihm andere Forscher bis zurück zu den ersten Erkundungen im Jahr 1896 durch Joseph Vallot. Publiziert wurden aber vor allem die Erkundungen in der Grotte und nicht der Einstieg in die Mühlen.

Was heisst Neuland?

Entdecken heisst hier also, als Erster davon zu berichten. Vielleicht war auch schon jemand anderes in der zentralen Eishöhle der Plaine Morte, vielleicht ist er noch immer dort, doch darum geht es nicht. Es geht auch nicht darum, eine britische oder Schweizer Fahne in das Innere des Gletschers zu pflanzen.



Senkrecht, bis zu 50 Meter tief fallen die Eisschächte ins Eis. Abseilen ist die einzige Einstiegsmöglichkeit.

Senkrecht, bis zu 50 Meter tief fallen die Eisschächte ins Eis. Abseilen ist die einzige Einstiegsmöglichkeit. (Bild: Bochud Martin)

Für Hervé und Fred geht es um das Unbekannte. Neuland heisst also, dass für diesen dem Entdecker zugänglichen Teil der Menschheit noch niemand davon berichtet hat. In diesem Sinn sind wohl auch die meisten historischen Entdeckungen einzuordnen. Der amerikanische Kontinent war für die Europäer neu. Wann wurde Europa durch die Amerikaner entdeckt? Unwahrscheinlich, dass vor Scott und Amundsen jemand am Südpol war. Unwichtig, irgendwie auch.

Nach drei Jahren wagten sich Hervé und Fred, abgesehen von vorherigen Touren in einer randnahen Grotte, im November 2015 erstmals in die Horizontale. Der Blogeintrag lautet dazu: «Schöne Überraschung: Nach einem Vorsprung von 3–4 Metern eine kleine Windung, ein Schacht von 30 Metern (der nicht fliesst) und, unten, erkunden wir den Gang bis zu einem Siphon, über mehr als 100 Meter. Auf der anderen Seite setzt sich der Gang fort, steigend über 20 Meter.»

Mit den Gletschern schmelzen die Entdeckungen weg

Höhlenforscher halten ihre Erkundungen in der Regel streng geheim. So taten es bis anhin auch Hervé und Fred mit den vielen Höhlen-Canyons, die sie erstbegangen haben. Dass sie nun mit den Gletscherhöhlen an die Öffentlichkeit gehen, hat mehrere Gründe. Erstens schmelzen ihnen die Gletscher über den Köpfen weg. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts werden 90 Prozent der Alpengletscher verschwunden sein. Die unglaubliche Zahl an Höhlen, die es in dieser Zeit noch zu «entdecken» gibt, reicht für alle Interessierten aus. Hinzu kommt, dass der Gang unters Eis eine Kombination aus unterschiedlichen Fähigkeiten erfordert, die nur eine sehr begrenzte Zahl der rund 1500 Höhlenforscher der Schweiz hat. Fred zählt auf: «Alpine Grundkenntnisse, Biwakieren auf 3000 Metern, Kenntnisse im Eisklettern, Canyoning, Höhlenforschen und -tauchen.»



Die Erforschung der Gletscherhöhlen ist nicht zuletzt eine organisatorische Herausforderung.

Die Erforschung der Gletscherhöhlen ist nicht zuletzt eine organisatorische Herausforderung. (Bild: icecave/ Hervé Krummenacher)

Aufgrund dieser Vielseitigkeit tobt unter der Plaine Morte eine Materialschlacht, was zusätzliche Anforderungen an mögliche Mitentdecker stellt. Freds Materiallager auf Schienen zeugt davon. Die beiden betonen aber gerade deswegen: «Wir freuen uns über zusätzliche Hilfe, damit wir langsam Kenntnisse sammeln und so weiter in den Gletscher vordringen können.»

Interessierte Wissenschaftler

Interessiert an Hervés und Freds Entdeckungen ist auch Matthias Huss: «Könnten sie wirklich weit in den Gletscher eindringen, hätten wir erstmals mehr als nur Annahmen und Modelle über das Innenleben von alpinen Gletschern. In diesem Fall würde das in erster Linie den Einwohnern der Lenk helfen, die Gefahr, die über ihnen liegt, zu verstehen und sich so davor zu schützen.»

Wie genau das vor sich gehen soll, weiss er aber nicht. «Wir haben bisher gar nicht darüber nachgedacht, da es ausserhalb des Möglichen lag.» Fred und Hervé würden sich darüber freuen, mit den Forschern zusammenzuarbeiten. «Messsonden im Innern des Gletschers anbringen, was weiss ich – ich glaube, es gibt noch gar keine entsprechenden Vorrichtungen.» Hervés Vater ist gerade die Treppe hinabgestiegen und kommentiert mit Blick auf die Werkstatt: «Dann basteln wir hier halt was.» Er öffnet die Kellertüre und durch das Panoramafenster sehe ich ihn auf der Wiese im Tal verschwinden.

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