Der ungarische «Viktator» hat seinen Kredit verspielt

Erst machte Premier Viktor Orbán mit Maulkorb-Gesetzen für die Medien auf sich aufmerksam – jetzt treibt er das Land in den Abgrund.

Die Proteste gegen die Regierung von Viktor Orbán erfassen immer breitere Volkskreise. (Bild: Keystone)

Erst machte Premier Viktor Orbán mit Maulkorb-Gesetzen für die Medien auf sich aufmerksam – jetzt treibt er das Land in den Abgrund.

Umgeben von halb ausgetrunkenen Teeflaschen und dick eingepackt in drei Paar Hosen gehen die Hungerstreikenden in die 28. Protestnacht vor dem staatlichen ungarischen Fernsehen. Die Temperaturen bewegen sich um den Nullpunkt, eisiger Regen fällt. Es sei schon viel schlimmer gewesen, meint Balazs Navarro. «Immerhin haben sie die Musik ausgeschaltet», sagt er und zeigt auf einen Kasten, der aus einem Fenster im oberen Stockwerk quillt. Darin lagert ein Lautsprecher, aus dem an den Weihnachtstagen stundenlang «Jingle Bells» erklang – in höchster Lautstärke. Es ist nicht die einzige Vertreibungstaktik. Hinter den Glasscheiben des Empfangs waren Reflektoren angebracht. Sie sollten verhindern, dass Fotografen ihre Bilder machen konnten, als private Sicherheitsleute angerückt waren, um das Camp aufzulösen – und es nicht schafften.

Manipulierte Medienberichte

«Das hier sind Guantánamo-Methoden», meint Navarro Nagy. Der 44-Jährige verlor am 27. Dezember seinen Job als Nachrichtenredakteur beim ungarischen Sender MTV1. Er wurde kurzerhand gefeuert, weil er als ­Gewerkschafter Mitte Dezember zum Streik aufgerufen hatte. Es sollte ein Protest – so Nagy – «gegen die weitverbreitete Manipulation von Sendungen im staatlichen Fernsehen sein», wie sie üblich ist, seit im April 2010 die nationalkonservative Fidesz (Fiatal Demokraták Szövetsége/Bund Junger Demokraten) an die Macht katapultiert wurde.

Nagy und die anderen Hungerstreikenden, die mit Tee und klarer Brühe überleben, sind nicht die Einzigen, die aufstehen gegen Fidesz und deren zunehmend autokratischen Führer, Premier Viktor Orbán – einen 48-jährigen, in Oxford ausgebildeten Rechtsanwalt mit fünf Kindern und einer Passion für Fussball. In den letzten Tagen des Kalten Krieges hatte er sich als Dissident gegen das kommunistische Regime einen Namen gemacht und danach aber eine ideologische Kehrtwende sondergleichen vollführt.

Péter Krekó, Forschungsdirektor des Budapester Instituts Political Capital, meint über den Widerstand, der sich allmählich regt: «Bisher hat die Regierung jede Kritik mit dem Argument abgeschmettert: ‹Wir haben unsere Zwei-Drittels-Mehrheit in klar demokratischen Wahlen gewonnen; wir haben ein Mandat des Volkes.› Aber wenn Zehntausende auf die Strasse gehen und sich die Sympathien für Fidesz laut Umfragen halbiert haben, klingt das nicht mehr sehr glaubwürdig.»

Vorboten eines Volksaufstandes

Einige Kommentatoren sahen in den Protesten bereits Vorboten eines Volksaufstands à la Mubarak. Tatsächlich sind die Parlamentarier der Fidesz von Orbán viel zu sorgfältig ausgewählt worden, als dass eine Revolte von Hinterbänklern denkbar wäre. Andererseits: Fällt die Währung, der ungarische Forint, weiter, und weigert sich der Regierungschef, im Gegenzug für einen dringend benötigten Kredit politische Konzessionen zu machen, könnte es wirklich schlimm kommen.

Jávor Benedek, Parlamentsmitglied der grünen LMP (Lehet Más a Politika), sagt Hungeraufstände der Ärmsten voraus, besonders der schikanierten ländlichen Roma, sollte die Regierung sie weiter marginalisieren. János Samu, Makroanalyst bei der Investmentgesellschaft Concorde Securities, glaubt, es sei «politisch sehr schädigend für Orbán, wenn die Menschen sehen, wie der Forint täglich fällt und der Zinssatz für Ungarns Kredite steigt». Der Internationale Währungsfonds kappte vor Weihnachten den Verhandlungsstrang mit der Regierung, als die sich weigerte, eine vom IWF geforderte Gesetzesänderung vorzunehmen. Sie wurde dann doch noch vorgenommen.

Gefahr eines Staatsbankrotts

Mit der für ihn typischen Trotzhaltung hatte Premier Orbán darauf bestanden, dass sein Land eigene Wege gehe und niemandem verpflichtet sei. Bald begannen die Ökonomen darüber zu reden, was passieren würde, falls der IWF-Kredit nicht zustande käme: Es sei mit einem Ansturm auf die Banken, mit steigenden Zinsen, einer Hyperinflation, sogar einem möglichen Staatsbankrott zu rechnen. Die Medien berichteten über Scharen von Ungarn, die sich mit Reisetaschen voller Geld über die Grenze nach Österreich absetzten. Daraufhin hat am 11. Januar eine ungarische Delegation dem IWF in Washington einen «informellen Besuch» abgestattet, wie es in Budapest hiess, doch noch ist kein rettendes Ufer in Form von Finanzhilfe in Sicht.

Wirtschaftsexperten glauben, dass Viktor Orbán auf die Dauer nichts anderes übrig bleibt, als erlassene Gesetze, die dem Machterhalt von Fidesz dienen, wieder aufzuheben. Nur so kann er die mindestens 15 Milliarden Dollar erhalten, die gebraucht werden, um einen Teil des früheren Notkredits von 20 Milliarden Dollar abzulösen, den der IWF 2008 bei der letzten Rettungsaktion gewährte. Drei Jahre später haben zwei Rating-Agenturen ungarische Staatspapiere unter «Ramschniveau» einsortiert. Zusammen mit der Tatsache, dass der Wert des Forint derzeit ins Bodenlose zu stürzen droht, ergeben sich daraus Zutaten einer gefährlichen Krise.

Die Vierte Republik

Für Jávor Benedek war es ein «grandioser Fehler», dass Orbán auf dem Euro-Gipfel am 8./9. Dezember in verhängnisvoller Weise auf sich aufmerksam machte. «Indem er drohte, ein Veto gegen das Euro-Rettungskonstrukt einzulegen, zwang er Merkel, Sarkozy und Barroso, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Allen war seit einiger Zeit bewusst, dass es in Ungarn Probleme gab, aber sie waren viel zu beschäftigt mit dem erodierenden Euro, um irgendwas zu unternehmen. Als Orbán drohte, die Euro-Rettung zu blockieren, reagierten die anderen Staatsführer nach dem Motto: Wir können diesen Kerl nicht einfach gewähren lassen.»

Während all dies passiert, betrachten die Mitglieder der politischen Opposition die Lage vom Rand des Spielfeldes aus. Alle klagen über ein Gefühl der Ohnmacht. Jávor Benedek, dessen LMP bei der Wahl 2010 7,5 Prozent der Stimmen und 16 Sitze im Parlament gewann, ärgert sich darüber, es nicht geschafft zu haben, innerhalb des Parlaments irgendetwas zu bewirken – trotz 200 vorgelegter Änderungsanträge bei der Lesung von Gesetzen. Am 23. Dezember ketteten sich Benedek und andere Oppositionspolitiker an die Tore des Parlamentsgebäudes, eines prachtvollen gotischen Baus an der Donau. Es sei aus purer Verzweiflung geschehen, um Frustration über die «systematische Demontage der Demokratie» auszudrücken, meint Benedek.

«Die Medien berichteten national und ­international – es war ein Wendepunkt.» ­Zugleich haben junge Ungarn begonnen, Alternativen zu den etablierten Parteien aus­zutesten. Im ersten Stock des Budapester Pubs «Die Möwe» plant eine Gruppe, die sich «Eine Million für die Pressefreiheit» (Milla) nennt, gerade ihre nächsten Schritte. Seit Péter Juhász das Kollektiv im Dezember 2010 auf Facebook gründete, ist es auf 95 000 Facebook-Mitglieder angewachsen. Im Oktober half es, bis zu 100 000 Ungarn für ein öffentliches Aufbegehren gegen die neuen Mediengesetze zu mobilisieren.

Laut Juhász gebe es lohnende Ziele. «Nach jüngsten Umfragen sind 55 bis 60 Prozent der Ungarn so enttäuscht von der Politik, dass sie für gar keine Partei stimmen würden, sollte es morgen eine Wahl geben. Deshalb wollen wir Bedingungen schaffen, unter denen es möglich ist, dass sich neue Gesichter als künftige politische Führer zeigen können.»

Ein anderes Vorhaben ist die Wahl eines «alternativen ungarischen Präsidenten», ein über Facebook ins Leben gerufener Talentwettbewerb mit dem Ziel, Personen zu finden, die das Land besser – oder zumindest anders – repräsentieren können als der jetzige Amtsinhaber Pál Schmitt. Adam Schönzberger, einer der Organisatoren, erklärt: «Wir wollen jemanden finden, der die Themen anspricht, die von den Medien unter den Teppich gekehrt werden.» Der neue Präsident werde ein Büro bekommen und Berater, meint Schönzberger.

András Istvánffy hat die Partei Vierte Republik (4K!) gegründet. Der Name sei gewählt worden, «weil die Dritte Republik am 1. Januar 2012 zu Ende ging». Da nämlich änderte sich mit der neuen Verfassung der Name des Landes, das nicht mehr Republik Ungarn, sondern nur noch schlicht Ungarn heisst. Die Vierte Republik versteht sich als linke Alternative zur Sozialistischen Partei (MSZP), die in den Augen einer Mehrheit schwer diskreditiert ist. Nur wegen ihres ramponierten Ansehens konnte Fidesz bei der Wahl 2010 mit Riesen-Mehrheit gewinnen. Istvánffys Ziel ist das Ende der Regierung Orbán – oder, wie er es nennt, «einer unlogischen, inkohärenten Diktatur».

Aber so bald wird das nicht möglich sein. «Wir werden uns erst im Mai als Partei registrieren lassen. Und wir brauchen Zeit, uns selbst zu organisieren.»

 

Deszö Nagy (70) aus Budapest, pensionierter Lehrer

«Es soll an unseren Schulen künftig täglich Sportstunden geben, ausserdem Reitunterricht für jeden. Das versteht Viktor Orbán offenbar unter Kulturbildung, ganz abgesehen davon, dass die Regierung das gar nicht bezahlen kann. Oft hat eben die Fidesz nichts als unüberlegte Ad-hoc-Politik und Populismus zu bieten. Nur ein Beispiel: Bevor die Ersparnisse Tausender Rentner kassiert wurden, erreichte ein Fragebogen alle Rentnerhaushalte, unterzeichnet von Orbán persönlich. Der fragte die Pensionäre, also auch mich, nach ihrer Meinung zur Regierung. Ich habe mit einem Brief geantwortet und darin Orbán gefragt, warum er ausgerechnet meine Meinung hören wolle, wenn er doch sonst auf die seiner politischen Gegner pfeift. Und dann habe ich ihn zitiert. Nachdem Orbán Gespräche mit der Opposition über ein neues Gesetz abgelehnt hatte, sagte er einmal: ‹Es wäre zwecklos gewesen, Verhandlungen zu führen. Wir hätten uns sowieso durchgesetzt.› Mit anderen Worten: Wenn wir das so wollen, wird es auch so gemacht – das ist sein Verständnis von Demokratie.»

Lászlo Pinter (52) aus Kaposvár, Kleinunternehmer

«Wenn ich hier in unserer Stadt Kaposvár eine Behörde ­betrete, in der die KP vor 1989 ihren Sitz hatte, umgibt mich die gleiche Atmosphäre wie damals. Niemand weiss etwas, keiner fühlt sich zuständig, keiner ist verantwortlich – genau wie früher. Ich habe zwei gute Freunde, ein Paar: Er hat Fidesz gewählt, sie die grüne LMP. Ich sagte zu ihm: Dafür, dass du den Orbán gewählt hast, kannst du dir gleich von deiner Bea eine Ohrfeige abholen. Und wenn du das überstanden hast, hol dir morgen bitte die nächste ab. Aber wir hatten eben 2010 nur die Wahl zwischen ­verschiedenen Räubern. Im ersten Wahlgang habe ich für Jobbik (Rechtsaussenpartei – die Red.) gestimmt, weil die versprochen hat, die Vorgängerregierung zur Rechenschaft zu ziehen. Denn die Sozialisten haben Ungarn zugrunde gewirtschaftet. Im zweiten Wahlgang habe ich der LMP meine Stimme gegeben, aber da war es ohnehin zu spät. Orbán hatte seine zwei Drittel sicher.»

Gizela Vilmosné (67) aus Györ, arbeitet nebenher als Steuerberaterin

«Die Leute gehen auf die Strasse. Anfang Januar ­sollen es hunderttausend gewesen sein. Es waren nicht die Parteien, sondern die Bürger, die da ­demonstrierten. Nachdem Orbán mit seinen Leuten im Budapester Opernhaus die neue Verfassung ­gefeiert hatte, musste er durch die Hintertür ­verschwinden. Derzeit traut er sich nicht mehr selbst aufs Podium, er schickt seine Sprecher vor – als sei er mit einem U-Boot irgendwo untergetaucht. Ich glaube, er hat Angst. Derselbe Mensch, der ­unter der Vorgängerregierung noch auf der Strasse war und unter die Leute gegangen ist, lässt sich jetzt nirgends mehr blicken. Unsere Hoffnung liegt nur noch bei der EU. Wenn Ungarn mit der EU einen Vertrag unterschreibt, muss der auch eingehalten werden. Doch die Fidesz-Leute halten sich für so schlau, dass sie glauben, nur was sie wollen, sei ­richtig. Sie lassen sich von nirgendwoher Ratschläge erteilen, auch nicht aus Brüssel.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

Protokolle: Peter Knobloch

Übersetzung: Carola Torti

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