Die neue Sachlichkeit

Selten waren sich Politik und Pharma-Branche in Basel ideologisch ferner als heute. Gerade darum sind die Beziehungen wohl so gut wie noch nie.

Entspannter Umgang. Regierungsrat Philippe Leuba (VD), Pascal Brenneisen, Chef Schweiz Novartis, und Regierungsrat Christoph Brutschin (BS) bei der Medienkonferenz diese Woche. (Bild: Reuters)

Selten waren sich Politik und Pharma-Branche in Basel ideologisch ferner als heute. Gerade darum sind die Beziehungen wohl so gut wie noch nie.

In diesem speziellen Fall wäre der journalistisch überstrapazierte Einsatz einer Zeitmaschine wohl für einmal gerechtfertigt. Wir würden die beiden SP-Regierungsräte Eva Herzog und Christoph Brutschin gerne in die 80er-Jahre versetzen, wo sie mit ihren jüngeren Ichs, den beiden flammenden Genossen, über die Abhängigkeit der Stadt Basel von der Pharma-Branche diskutieren könnten. Die aktuelle Eva hätte der jungen Eva etwas von der Wichtigkeit «guter Rahmenbedingungen» erzählt; der aktuelle Christoph dem jungen Christoph etwas von der «Antizipation der Anliegen von Unternehmen».

Die beiden jüngeren Ichs der Regierungsräte hätten wohl den Kopf geschüttelt und folgenden Satz gesagt: «Was ist nur geschehen?»
«Wir sind älter geworden», sagt Eva Herzog, ganz im Jetzt und ganz ernsthaft. Mit fortschreitendem Alter erkenne man gewisse wirtschaftliche Zusammenhänge; erkenne die Bedeutung eines Arbeitsplatzes, eines Arbeitsplatzes in der Region notabene. «Aber das heisst nicht, dass wir alles akzeptieren.» Einen massiven Stellenabbau beispielsweise. Elfmal haben sich Brutschin und Herzog seit Oktober mit der Spitze der Novartis getroffen, elfmal darauf hingewiesen, dass es die Bevölkerung nicht versteht und nicht akzeptiert, wenn ein Konzern einen Milliardengewinn verkündigt und gleichzeitig 760 Stellen streicht. Nach den Verhandlungen sind noch 250 Stellen übrig, die in Basel verloren gehen, eine Zahl, die Brutschin in den «zweistelligen Bereich» drücken will.

Ideologische Entfernung

Es ist eine der speziellsten Begleiterscheinungen der rot-grünen Mehrheit im Kanton, dass heute jene Politikerinnen und Politiker mit den beiden gros­sen Basler Pharma-Konzernen kutschieren müssen, die ihnen ideologisch am weitesten entfernt sind. Sie bewerkstelligen das anscheinend auch noch so, dass sie nicht nur von den eigenen Leuten, sondern auch von den Bürgerlichen gelobt werden.

Rolf Soiron, einer der bedeutendsten Wirtschaftsführer der Schweiz und wahrlich kein Linker, sagt: «Die beiden Regierungsräte der SP haben ein sehr professionelles Verhältnis zur Pharma-Branche. Professioneller als ihre bürgerlichen Vorgänger.» Selbst FDP-Grossrat Baschi Dürr, der mit seiner Regierungsratskandidatur die rot-grüne Mehrheit sprengen will, findet nur Lob für Herzog und Brutschin: «Die aktuellen Verhandlungen mit Novartis geben keinen Anlass zur Kritik. Sie haben das gut und pragmatisch gemacht. Bei den Linken hat im Verhältnis zur Chemie in den Jahren nach Schweizerhalle ein Wandel zum Guten stattgefunden.»

Der Wandel, so er – wie von Baschi Dürr beschrieben – stattgefunden hat, ist ein wechselseitiger. Mit dem Rücktritt von Alex Krauer als Präsident von Novartis im Jahr 1999 ist die Ära der regional verwurzelten Pharma-Chefs zu Ende gegangen. Damit einher ging ein «Wahrnehmungsproblem», wie Rolf Soiron sagt, der bis in die 90er-Jahre in der Sandoz gearbeitet hat und heute unter anderem Verwaltungsratspräsident von Holcim und Lonza und Mitglied im Vorstandsausschuss von Economiesuisse ist. «Früher waren die Entscheidungsträger der Pharma eng mit dem gesellschaftlichen Leben der Stadt verbunden.» Als Fasnächtler, als Zünftler, als Bewohner der Stadt. Heute, da nicht mehr die Ausländer die Exoten in den Verwaltungsräten der Roche und der Novartis sind, sondern die Schweizer, gebe es keine derartige emotionale Verknüpfung mehr zwischen der Chemie und der Stadt.

Gleichzeitig, und nur scheinbar paradox, sei das Engagement von Novartis und Roche in Basel-Stadt noch nie so gross gewesen wie heute. Der Campus der Novartis für 2,2 Milliarden und der Roche-Turm für über eine halbe Milliarde Franken seien Bekenntnisse zum Standort. Und zwar Bekenntnisse rationaler Art, nicht emotionaler. «Die Liebesbeziehung von früher ist einer Vernunftehe gewichen», sagt Soiron. Und diese würden ja bekanntlich besser halten.

Abhängigkeiten

Ob rational oder emotional – geblieben ist die faktische Abhängigkeit der Stadt von der Pharma-Branche. Rund die Hälfte aller Steuereinnahmen von juristischen Personen stammen aus der «chemisch-pharmazeutischen Indu­s-trie», wie es die Finanzkommission in ihrem Bericht zum Budget 2009 festgehalten hat. Das macht für das Jahr 2010 beispielsweise rund 350 Millionen Franken – und darin sind die Einkommenssteuern der Novartis-Angestellten noch nicht enthalten. Dazu kommt die Wertschöpfung der Industrie in der Region, die nach Berechnungen der Handelskammer rund einen Viertel der wirtschaftlichen Gesamtleistung ausmacht. «Erstens ist es eine historisch gewachsene Tatsache, dass jede Region ihre wirtschaftlichen Schwerpunkte hat», sagt Herzog, «und zweitens sind wir damit in den vergangenen Jahren sehr gut gefahren.»

Der Regierung bleibt auch wenig anderes übrig, als sich mit der dominanten Stellung der Pharma zu arrangieren. Die Möglichkeiten, staatlich gelenkte Diversifizierung zu fördern, sind gering. «Wir müssen und dürfen mit dieser Industrie leben», sagt Volkswirtschaftsdirektor Christoph Brutschin.

«Feudalherrschaft»

Würde Soziologieprofessor Ueli Mäder diesen letzten Satz von Brutschin hören, er würde das «dürfen» streichen. Mäder hat sich aktiv gegen den Stellenabbau bei der Novartis engagiert und sieht die wirtschaftlichen Beziehungen der Stadt mit der Pharma nicht derart gelassen wie die Regierungsräte der SP. «Wir sind extrem einseitig von der Pharma-Industrie abhängig. Beinahe wie im Feudal-Adel.»

Mäder beobachtet, ähnlich wie Soiron, eine immer grössere Entfernung zwischen der Spitze der Pharma und der Politik, zieht aber einen gänzlich anderen Schluss daraus. Zwanzig Jahre lang, vom Fall der Maurer 1989 bis zur Finanzkrise 2009, habe die Welt eine Phase der extremen Marktliberalisierung und des Neoliberalismus angelsächsischer Prägung erlebt. Mit dem Effekt, dass sich Wirtschaftsführer wie der Novartis-Verwaltungsratspräsident Daniel Vasella viel mehr erlauben dürfen und das politische Korrektiv immer weniger dagegen tun könne.
In Mäders aktuellem Buch «Wie Reiche denken und lenken» wird Vasella nach seiner indirekt ausgesprochenen Drohung befragt, den Standort Basel zu verlassen. Vasella antwortete: «Unternehmen werden immer Standorte wählen und negative und positive Aspekte miteinander abwägen. Das Bewusstsein der Bevölkerung über diese Tatsache nährt gesunde Befürchtungen. Sie verhindern auch die Narrenfreiheit.»

Mäder und mit ihm Teile der Gewerkschaft Unia, die am Dienstag den «mangelnden Widerstand» der Basler Regierung bemängelten, fürchten sich sich vor der Alleinstellung der Pharma-Branche in der Region: «Die Too-Big-to-Fail-Problematik lässt sich nicht nur auf die Finanzbranche anwenden.» Gefordert seien nun alle, nicht nur die Politik: «Es braucht eine Basis-Mobilisierung der Bevölkerung. Wir dürfen nicht in Dankbarkeit erstarren.»

Im Moment sind in Basel nur wenige Stimmen wie jene von Mäder zu hören. Es scheint, als habe sich die Region heute, gut 25 Jahre nach der Katastrophe von Schweizerhalle, endgültig mit der Pharma und ihrer Stellung in der Stadt arrangiert.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

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