Review zu „Why games are the 21st Century’s most serious business“ von Tom Chatfield (2010) //
Als der Fernsehsender RTL am 19. August.2011 einen Bericht über die „gamescom“, eine der weltweit grössten Messen für Unterhaltungselektronik ausstrahlte, wurde dieser mit folgenden Worten anmoderiert: „Sollten irgendwann doch Ausserirdische bei uns auf der Erde landen, könnten sie auf folgender Veranstaltung wirklich enge Freundschaften schliessen.“ Entsprechend gestaltet war auch der Beitrag, der Gamer als merkwürdige, vereinsamte und der Körperhygiene abgeneigte Gestalten zeigte. Innerhalb kürzester Zeit trafen bei Sender, wie auch der offiziellen Programmbeschwerdestelle, tausende E-Mails entrüsteter Zuschauer ein. Ob Tom Chatfield sich dem „shitstorm“ angeschlossen hätte, oder dem Sender nur ein Exemplar seines im Februar 2012 erschienenen Buches „Why games are the 21st Century’s most serious business“ hätte zukommen lassen, kann ich nicht beurteilen. Aber Sympathien für den zuständigen Redakteur hätte er wohl sicherlich nicht entwickelt.
Wovon handelt das Buch?Von Vorurteilen und einem massiv unterschätzten Medium. Und genauer? Chatfield analysiert die Entwicklung des Mediums bis zur heutigen Zeit in Bezug auf soziale, kulturelle und ökonomische Aspekte und trifft Vermutungen über die Entwicklung in der Zukunft. Im Grunde geht es darum, dass seiner Meinung nach Videospiele wichtiger sind, als die Allgemeinheit annimmt. Er argumentiert, dass der Mensch einen angeborenen Spiel- und Lerntrieb hat, der durch Spiele schon seit jeher erfüllt wird. Dieser kann von der stetig wachsenden und innovationsfreudigen Industrie immer individueller „für jeden“ befriedigt werden. Den besonderen Reiz des Buches macht dabei für mich aus, dass es die digitale Spielewelt vor allem vor dem Hintergrund aktueller Kritik (Spielsucht, Vereinsamung, Gewalt im Game, Lerneffekt, Kinder und Spiele, etc.) erörtert und dabei immer wieder auf wissenschaftliche Studien und Beispiele eingeht.
Zum Beispiel? Das thematisierte „Smith and Jones Centre“ in Amsterdam, das sich als erste europäische Institution im Jahr 2006 darauf spezialisierte Videospielsucht zu behandeln. Die Klinik überraschte 2008, als sie verkündete, dass sie die auf psychische Süchte ausgerichteten Therapieformen aufgeben und sich stattdessen auf das Stärken von sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der Betroffen konzentrieren werde. Für den Leiter der Einrichtung ist übermässiger Spielekonsum eine bewusste Reaktion auf ein problembelastetes soziales Umfeld, keine unfreiwillige Abhängigkeit. Es muss also hauptsächlich daran gearbeitet werden, dass die Patienten zu Eltern, Lehrern und vor allem Gleichaltrigen wieder ein normales Verhältnis aufbauen können.
Lieblingszitat? „They [games] represent a refuge from the world […] with the potential to be more than merely an exercise in evasion and irresponsibility: something that can function both as critique of what is lacking in many lives and as a channel through which those lives might be changed.”
Gibt es Probleme mit dem Buch? Der Autor ist passionierter Gamer und schreibt im Vorwort: „This is a shamelessly partisan book about video games“. Obwohl er durchaus auf dem Medium gegenüber kritische Ansichten eingeht, scheint es ihm etwas an Elan zu fehlen, diesen gründlich nachzugehen. Negativeffekte deklariert er oft einfach als Ausnahme, was teilweise etwas dürftig erscheint.
Wer sollte das Buch lesen? Obwohl ich das Buch jedem empfehlen würde, der sich für die Gaming-Kultur interessiert, sind es doch eben jene, die die Faszination „Videospiele“ noch nie so richtig verstanden haben oder ihnen besonders kritisch gegenüberstehen, die Chatfield eine Chance geben sollten. Und wieso? Er erklärt, was viele Menschen wirklich für Spiele begeistert und wieso sie nicht wieder von der Bildfläche verschwinden werden. Selbst wenn man noch nie einen der erwähnten Titel gespielt hat, bekommt man doch ein „feeling“ für ihren Reiz, welcher eben nicht unbedingt darin besteht Gewalt auszuüben.
Woran erinnert das Buch? An die Spielreihe „Portal“, die in den USA auf Schulrechnern installiert und in Collegekursen als „Pflichtlektüre“ angegeben wurde. Nun soll der „Puzzle Maker“ (ein Programm für Levelde-sign) des Spiels auch an deutschen Schulen dazu eingesetzt werden Schülern physikalische Prinzipien näher zu bringen, räumliches Denken zu fördern und Interesse an Technologie zu wecken. Dies unterstreicht Chatfields These, dass Spiele einen Imagewandel durchlaufen, der sie zu einem in unserer Gesellschaft ernst genommenen Medium machen wird. Nicht nur, weil die Masse an Geld, die im Spielemarkt steckt, so beeindruckend ist, sondern auch weil ihr Potenzial endlich anerkannt wird. Und ausserdem erinnert mich „Fun Inc“ auch daran, dass ich „Portal 2“ immer noch nicht durchgespielt habe, es aber unbedingt tun sollte.