Die Baselbieter Hauptstadt erwacht

Lange wollte Liestal alles und bekam nichts. Jetzt will die Hauptstadt nur noch viel und bekommt fast alles – etwa das erste Einkaufszentrum.

Liestal erwacht aus dem Dornröschenschlaf: Das neue Manor-Einkaufzentrum. (Bild: Nils Fisch)

Lange wollte Liestal alles und bekam nichts. Jetzt will die Hauptstadt nur noch viel und bekommt fast alles – etwa das erste Einkaufszentrum.

Liestal ist hungrig, hungrig nach Neuem: Als die Manor einlädt, die Eröffnung ihres Einkaufszentrums zu feiern, rechnet das Warenhaus damit, dass sich maximal zwanzig Prozent der geladenen Gäste anmelden. Es kommen dreimal so viele: Über 3000 stossen am Vorabend auf die Eröffnung des Einkaufszentrums an. Manor-Angestellte, die zwischendurch draus­sen rauchen, werden von Passanten gefragt, ob sie schon einkaufen könnten.

Das neue Einkaufszentrum, das aller­erste überhaupt in der Baselbieter Kantonshauptstadt, ist so etwas wie ein Sinnbild für das neue Selbstverständnis Liestals. Ausgerechnet jene Kleinstadt, die vorher in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf gefallen war, in der zwar viele Projekte angerissen, aber kaum umgesetzt wurden, ist plötzlich der Inbegriff einer dynamischen Entwicklung.

Hungrig nach Neuem

Die Achse vom Bahnhof zur Manor hat die Stadt komplett neu gestaltet.Der Durchgangsverkehr fliesst schon länger nicht mehr über den Bahnhof. Auf der Poststrasse gilt Tempo 20, der Wasserturmplatz ist saniert und wirkt zum ersten Mal wie ein solcher, selbst vor den Toren der Manor ist ein neuer Platz entstanden.

Es scheint, als habe Liestal riesigen Nachholbedarf und eben diesen Hunger nach Neuem. Der im Sommer 2012 gewählte Stadtpräsident Lukas Ott ist ein Grüner. Auch das ein Novum. Und im Stadtrat neu eingezogen ist die Baselbieter Staatsarchivarin Regula Nebiker (SP). Damit regiert jetzt eine links-grüne Mehrheit.

Vorsprung der Rückständigkeit

«Liestal hat den Vorsprung der Rückständigkeit», sagt Regula Nebiker. Anders gesagt: Weil Liestal nicht mit der Zeit Schritt hielt und jahrzehntelang stillstand, sind jetzt grössere Würfe möglich. All die Brachen, die nicht mehr genutzten Gebäude wie das Ziegelhof-Areal oder nicht überbaute Flächen, etwa beim Bahnhof, sind plötzlich attraktiv für Investoren.

Insgesamt bauen diese in Liestal für über 200 Millionen Franken, hat Michael Bischof, Fraktionspräsident der FDP im Liestaler Einwohnerrat, ausgerechnet. Auch er registriert den Hunger nach Neuem und stellt fest, dass dank dem Generationenwechsel alte Verkrustungen aufbrechen. «Ich bin überzeugt, dass Liestal einen Riesensprung machen wird», sagt er.

20 Jahre verloren

Sinnbild für das alte Liestal ist das chancenlose Projekt des tiefgelegten Bahnhofs. Jahrelang hielt eine politische Mehrheit an dieser Luxus­lösung fest, eine fatale Selbstüberschätzung. Die ganze Stadtentwicklung war damit blockiert, denn fast alles war mit der künftigen Entwicklung des Bahnhofs verknüpft.

«Die kategorischen Forderungen und die völlige Fehleinschätzung der damaligen Generation führten zu einem Stillstand in der Stadtentwicklung. Damit verloren wir zwei Jahrzehnte», sagt Stadtpräsident Lukas Ott. Das alte Liestal hatte den Ruf, immer alles zu wollen und deshalb am Ende fast nichts zu bekommen. Nicht alle Rückschläge waren selbstverschuldet: Den Niedergang der Textil­industrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die damit verschwundenen rund 2000 Arbeitsplätze kann man nicht der Politik anlasten. (Mehr zur Geschichte im Historischen Lexikon der Schweiz, Liestal eingeben und danach Liestal (Gemeinde))

Investoren angelockt

Jetzt bläst Liestal zum Aufbruch, um den Anschluss zu schaffen. «Manor ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Stadt investiert und private Investoren nachziehen können», sagt Ott und meint die aufgewertete Achse vom Bahnhof bis zum Einkaufszentrum.

In Liestal wartet keiner mehr darauf, dass man ihm den Hof macht. So traf sich der Stadtpräsident mit Wirtschaftsförderern von BaselArea, um zu besprechen, wie der Stadtrat die Entwicklung fördern könne. Das war neu für die Wirtschaftsförderer. Er sei der erste Stadtpräsident, der auf sie zugekommen sei, sagten sie ihm.

Die Hauptstadt wächst wieder

Und Liestal wächst wieder, und zwar um rund hundert Einwohner pro Jahr. Darunter sind überdurchschnittlich viele junge Familien. «Viele Weltoffene kehren zurück nach Liestal, entdecken die Kleinstadt wieder. Das beschleunigt die Dynamik», sagt Ott. Bereits stehen nächste Projekte an: In einer Volksabstimmung hiess die Bevölkerung den neuen Quartierplan für das Ziegelhof-Areal gut. Grösster Investor dort ist Coop.

In seiner Ansprache zur Eröffnung des Manor-Einkaufszentrums sprach Lukas Ott von der Rückkehr der Kundinnen und Kunden. Das Einkaufszentrum werde als Magnetwirken. Davon könne der gesamte Detailhandel profitieren. Das Gewerbe feiert mit und lancierte dieses Wochenende einen «Erlebnisbummel im Stedtli».

Manor-CEO Bertrand Jungo pflichtete dem Stadtpräsidenten vor versammelter Presse bei: «Endlich hat die Hauptstadt des Kantons Baselland das Warenhaus, das sie verdient.» Unabhängig von politischen Überzeugungen habe er hier gespürt: «Man wollte etwas realisieren, nicht etwas verhindern.» Im alten Liestal hätten die versammelten Journa-listen über einen solchen Satz noch gegrinst. Heute verzog keiner eine Miene.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.03.13

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