Die Beziehungen der Nato mit Russland sind auf dem tiefsten Punkt seit Ende des Kalten Krieges. Im Bündnis werden Forderungen lauter, den Vertrag mit Moskau neu zu bewerten.
Bei einem Besuch von US-Präsident Barack Obama am Mittwoch im Baltikum stellte Estlands Staatschef Toomas Hendrik Ilves offen die Gründungsakte des Nato-Russland-Rates infrage. Das Dokument sollte ursprünglich eine neue Partnerschaft der beiden Erzfeinde nach Ende des Kalten Krieges begründen.
«Wenn eine Vereinbarung in bestimmen Teilen nicht mehr gilt, ist es an der Zeit, etwas zu ändern», sagte Ilves. Russland habe die Bestimmungen der Akte verletzt und ein «unvorhersehbare und neue Sicherheitsumgebung» geschaffen.
Das Abkommen sieht vor, dass die Allianz dauerhaft keine Kampftruppen in der Grössenordnung von etwa 3000 bis 5000 Mann in den östlichen Bündnisstaaten stationiert.
Schon am Wochenende hatte das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» berichtet, dass Polen, Kanada und die baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland die Vereinbarung von Mai 1997 aufkündigen wollen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel machte in Berlin hingegen klar, an bestehenden Verträgen mit Moskau werde sich nichts ändern. Dies sei Mehrheitsmeinung in der Nato.
Obama trifft baltische Regierungschefs
Obama reagierte zurückhaltend auf den Vorstoss von Ilves, auch wenn der US-Präsident einräumte, dass sich die Sicherheitslage klar verändert habe. Er sagte, die Nato sei bereit, im Konflikt in der Ukraine mehr zu tun und «der Ukraine dabei zu helfen, ihre Kräfte zu stärken und ihr Land zu verteidigen.»
Den Balten sicherte Obama den Beistand der USA zu. «Er ist unzerbrechlich, er ist felsenfest und er ist ewig», sagte er vor Journalisten in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Der US-Präsident kündigte zudem die Entsendung weiterer Soldaten der Luftwaffe und Flugzeuge ins Baltikum an.
Gemeinsam mit Ilves traf Obama die Präsidenten der beiden Nachbarstaaten Lettland und Litauen, Andris Berzins und Dalia Grybauskaite, sowie Estlands Regierungschef Taavi Rõivas.
Die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen sorgen sich, dass Russland nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und der Intervention im Osten der Ukraine auch ihre Landesgrenzen ins Visier nehmen könnte.
«Die anhaltende militärische Aggression gegen die Ukraine ist nicht nur eine Bedrohung für das Überleben der Ukraine, sondern auch für unsere Sicherheit», sagte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite. «Die Nato muss alle erforderlichen Massnahmen ergreifen, um die Sicherheit der baltischen Länder zu gewährleisten und die russische Aggression in Europa zu stoppen.»
Gipfel in Wales beginnt am Donnerstag
Die deutsche Kanzlerin Merkel betonte in Berlin, Wünsche der baltischen Staaten müssten ernst genommen werden. Diese werden auch Thema beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedsstaaten an diesem Donnerstag und Freitag in Wales sein.
Auf dem Tisch liegen Pläne, in Mittel- und Osteuropa fünf neue Stützpunkte aufzubauen. Die Nato will künftig «binnen weniger Tage Truppen in östliche Mitgliedsstaaten entsenden können, sofern diese von Russland bedroht werden».
Pläne für eine solche «Speerspitze» soll der Gipfel beschliessen. Es soll sich um «mehrere Tausend Soldaten» handeln. Unbestätigt ist die Zahl von 4000 Soldaten.
Paris spurt
Während in Brüssel an verschärften EU-Sanktionen gegen Russland gearbeitet wurde, verkündete Frankreich, dass die umstrittene Lieferung des ersten Mistral-Kriegsschiffes an Russland vorerst auf Eis gelegt wird.
Die Bedingungen für eine Lieferung des Helikopterträgers seien trotz der Aussicht auf einen Waffenstillstand in der Ukraine «derzeit nicht gegeben», erklärte der Elysée-Palast nach einer Sitzung des Verteidigungsrates in Paris.
Russlands Vize-Verteidigungsminister Juri Borrissow sprach von einem «unangenehmen Schritt», der die Spannungen verstärke. Es handle sich zwar um «keine besondere Tragödie», Russland behalte sich aber vor, von Frankreich die im Vertrag genannte Ersatzzahlung zu fordern, sagte er der Agentur Itar-Tass.