12 junge Menschen sind tot. Dutzende sind verletzt. Und Hunderte Familien für ihr Leben gezeichnet. Aber die Schusswaffenlobby blüht und gedeiht.
Bitte schauen Sie Sich diese Bilder genau an. Sie geben einen Einblick in die US-Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts.
Auf dem ersten sehen Sie eine kleine Demonstration. Sie findet auf einer Wiese am Rand des National Airports, im Bundesstaat Virginia, statt. Sie ist legal. Hinter den Reihen der Demonstranten ist das Wasser des Potomac Flusses. Auf dem gegenüberliegenden Ufer liegt die US-Hauptstadt. Würden die Demonstranten nicht auf den Redner auf der Ladefläche des Pickup vor ihnen schauen, sondern über ihre Schultern nach rechts, könnten sie die Kuppel des Kapitols erkennen, wo der US-Kongress die Gesetze macht.
Beim nächsten Blick fallen Ihnen vermutlich die Accessoires einiger Demonstranten auf: Die Westen, Mützen und Taschen in militärische Tarnfarben, und die Waffen, die alle tragen. Richtig! Diese Demonstranten haben neben Transparenten, Fahnen und politischen Texten (in der Regel die US-Verfassung in einer Pocket-Version) auch ihre Pistolen (mit Munition) und Gewehre (ohne Munition) mit gebracht. In Virginia ist das legal. Schliesslich sind die Schusswaffen mit (gelben) Plastikstöpseln gesichert.
Zwei weitere Details sind wichtig: Alle Demonstranten sind Männer. Und alle Demonstranten sind weiss.
Recht auf Waffenkauf
Am 19. April 2010 finden an mehreren Orten in der US-Hauptstadt und rund um sie herum Demonstrationen statt. Ihr Thema ist das Recht auf ungehinderten Waffenkauf und ungehindertes Waffentragen. Die Demonstranten verstehen das als «Freiheit».
Auf dem zweiten Bild sehen Sie Schusswaffenfreunde auf der anderen Seite des Flusses, die am selben Tag ohne Waffen für dasselbe Recht demonstrieren. Im Herzen der US-Hauptstadt gelten strengere Regeln als in Virginia. Deswegen haben diese vier Männer, die sich am Fuss des George Washington Monuments ausruhen, ihre Schusswaffen zu Hause gelassen. Die Sache ist ihnen wichtig: Sie sind Hunderte von Meilen gereist sind, um an der Demonstration teilzunehmen.
Auf dem dritten Bild ist ein Lehrer zu sehen. Er organisiert eine Waffenlotterie vor dem Eingang zu einer «Gun-Show». In den USA befinden sich 260 Millionen Schusswaffen legal in privaten Händen. Bei Tausenden von Messen verkaufen Privatleute und Händler ihre guten Stücke an Private. Diese Gun-Show in Arizona fand am 15. Januar 2011 statt – wenige Tage nach dem Anschlag auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords in der benachbarten Stadt Tucson. Schon am ersten Tag kommen 7000 Besucher zu der Gun-Show.
Die Männer auf den Fotos berufen sich auf das «Second Amendment». Der zweite Zusatz zur US-Verfassung stammt aus dem Jahr 1791. Damals waren die USA ein blutjunges Land. Mit gerade erst entstehenden staatlichen Strukturen. Und mit Musketen, die nach jedem Schuss neu durch den Gewehrlauf geladen werden mussten.
Der zweite Verfassungszusatz
Als das «Second Amendment» in Kraft trat, waren weisse Männer in den USA seit 15 Jahren unabhängig. Schwarze Menschen sollten noch 74 weitere Jahre versklavt bleiben. Und Frauen sollten noch 129 Jahre auf ihr Wahlrecht warten.
Jener Moment in der Geschichte ist das Idyll der Schusswaffenfreunde. Auch 221 Jahre danach ist das «Second Amendment» der Grundlagentext und die Inspiration für eine der einflussreichsten Lobbies des Landes.
Die Schusswaffenlobby unterhält ein dichtes Netzwerk von Organisationen. Ihre grösste Gruppe NRA (National Rifle Association), mit gegenwärtig 4,2 Millionen Mitgliedern, verlangt von KandidatInnen für den US- Kongress und andere Wahl-Ämter, dass sie das Versprechen ablegen, das «Second Amendment» zu verteidigen. Wer es wagt, die Schusswaffenlobby zu kritisieren, setzt seine politische Karriere aufs Spiel.
Sowohl Mitt Romney als auch Präsident Barack Obama haben sich damit arrangiert. Romney ist im Frühsommer zur Vollversammlung der NRA gepligert und hat vor den Waffenfreunden geschworen, dass er als Präsident ihre «Freiheit» verteidigen wird. So weit ist Obama nicht gegangen. Doch in seinen Reaktionen auf das Massaker in Aurora vermeidet auch er jeden Hinweis auf die fehlende Schusswaffenkontrolle.
In Aurora sind zwölf junge Menschen ermordet worden. Mehr als 50 Menschen wurden verletzt. Und Hunderte von Familien sind für ihr Leben gezeichnet. Wie nach jedem vorausgegangenen Massaker überbieten sich die Politiker auch dieses Mal wieder, mit öffentlichen Demonstrationen von Mitgefühl und Trauer. Und alle spekulieren über die Motive des Täters. Doch an die Wurzel des Übels traut sich keiner heran.
Die Lehre aus Aurora? Es wird weitere Auroras geben.