Die neue Zürcher Bescheidenheit

Jahrelang förderte Zürich – wie Basel – grosse, teure Wohnungen für «gute Steuerzahler». Jetzt lässt Zürich kleine, günstige Wohnungen für Normalverdiener bauen. Weil diese sonst aus der Stadt verdrängt würden. Und weil es für die Stadt lukrativ ist.

Jahrelang förderte Zürich – wie Basel – grosse, teure Wohnungen für «gute Steuerzahler». Jetzt lässt Zürich kleine, günstige Wohnungen für Normalverdiener bauen. Weil diese sonst aus der Stadt verdrängt würden. Und weil es für die Stadt lukrativ ist.

Ein 23-Quadratmeter-Apartment an der Zürcher Gerechtigkeitsgasse für 2680 Franken pro Monat. Ein WG-Zimmer in Höngg, 20 Quadratmeter, für 1750 Franken. Ein 280-Quadratmeter-Penthouse am Bellevue für monatlich 45 000 Franken. Es ist nicht so, dass es gar keine freien Wohnungen gäbe in Zürich.

Allein auf der Immobilien-Website homegate.ch waren diese Woche über 900 Objekte ausgeschrieben. Und es ist sogar ein Angebot darunter, das ins Familienbudget passt: 93 Quadratmeter für 1845 Franken – an ruhiger Lage nahe der Limmat. Doch die Freude ist von kurzer Dauer: «Da die Liegenschaft durch einen Neubau ersetzt wird, kann nur ein befristeter Mietvertrag bis 30. September abgeschlossen werden.» Solche «Ersatzneubauten» und Totalsanierungen verändern in Zürich das Gesicht ganzer Strassenzüge und führen oft zu einer Verdrängung der an­gestammten Bewohnerschaft, die sich die teureren Mieten nicht mehr leisten kann.

Die Mieten steigen und steigen

In den vergangenen zehn Jahren sind die Mieten in Zürich doppelt so stark gestiegen wie in Basel. Und während sie in Basel im vergangenen Jahr wieder leicht gesunken sind, steigen sie in Zürich unaufhörlich. So wird eine 4,5-Zimmer-Wohnung heute in Zürich laut dem Vergleichsdienst Comparis für durchschnittlich 2950 Franken angeboten, in Basel für 2150 Franken. «Basler Preise» in Zürich bieten die Genossenschaften und andere gemeinnützige Eigentümer, die jede vierte Wohnung besitzen. Doch die Nachfrage ist so gross, dass man es meist nicht einmal auf die Warteliste schafft.

Wohnraum für 30 000 zusätzliche Einwohner ist in Zürich seit der Jahrtausendwende gebaut worden. «Und doch hat es nicht genügt, um den Markt zu entspannen», konstatiert Alex Martinovits, Projektleiter bei der Stadtentwicklung Zürich. Vor allem Leute mit kleinem Einkommen und Familien hätten Mühe, eine Wohnung zu finden.

Die SP-Nationalrätin und Wohnungsmarktexpertin Jacqueline Badran sieht das Problem denn auch weniger in einem absoluten Mangel an Wohnungen: «Das Angebot hält einigermassen Schritt mit dem Bevölkerungswachstum infolge der Zuwanderung.» Das Problem sei vielmehr, dass renditeorientierte Eigentümer – darunter immer mehr börsenkotierte Immobiliengesellschaften – heute Fantasiepreise verlangen könnten. Dies laufe dem Grundsatz im Mietrecht zuwider, wonach der Mietzins aus den effektiven Kosten plus einer klar geregelten Rendite berechnet wird.

Ein Treiber dieser Entwicklung seien die hohen Löhne im Finanzsektor. Um den Preisdruck abzudämpfen, den gut verdienende und vermögende Einwanderer auslösen, fordert Badran zudem eine 5-Jahres-Wohnsitzpflicht für den Kauf von Immobilien – ein Vorschlag, der zurzeit bei links und rechts für heftige Diskussionen sorgt.

Die Mieter haben die Nase voll

Für Albert Leiser, FDP-Stadtparlamentarier und Direktor des Zürcher Hauseigentümerverbandes, wird das Problem hingegen hochgespielt: «Bei den meisten Mieterwechseln wird nicht oder nur moderat aufgeschlagen.» Ausserdem gebe es kein Menschenrecht, im Seefeld oder auf dem Bruderholz zu wohnen: «Mit der S-Bahn ist man von Dübendorf oder Pratteln ja schnell in der Stadt.»

Das Volk steht eindeutig auf der Seite Badrans: Mit 76 Prozent Zustimmung haben die Stadtzürcher ihrer Regierung im vergangenen Herbst das Signal gegeben, massiv in den Wohnungsmarkt einzugreifen. So soll der Anteil der gemeinnützigen Wohnungen bis 2050 von einem Viertel auf einen Drittel steigen. Weiter fordert der stark von Jacqueline Badran geprägte «wohnpolitische Grundsatzartikel» die soziale Durchmischung in allen Quartieren, mehr Wohnungen für ältere Menschen und Familien sowie einen «genügenden Anteil» ökologisch vorbildlicher Wohnungen.

Was zusätzliche günstige Wohnungen auch bedeuten, machte Stadtrat André Odermatt kurz nach der Abstimmung mit folgenden Worten klar: «Künftig wird es weniger Wohnfläche pro Kopf geben.» Laut einer Studie ­haben sich die Zürcher mit dieser Trendwende bereits abgefunden: Zwei Drittel würden für einen günstigeren Mietzins eine kleinere Wohnung in Kauf nehmen.

Mythos des «guten» Steuerzahlers

Damit haben die Zürcher endgültig mit der Politik gebrochen, die seit den 1990er-Jahren in Zürich und viel stärker noch in Basel tonangebend war: der Politik, «gute» Steuerzahler aus ihren Einfamilienhäusern und Villen zurück in die Stadt zu locken, indem man den Bau von «grossen und attraktiven» und damit teuren Stadtwohnungen förderte. Eine Politik, die laut Badran auf einem Mythos beruhte: «Nicht im Seefeld oder auf dem Zürichberg fällt der höchste Steuerertrag pro Quadratmeter an – sondern im dicht besiedelten Langstrassen-Quartier.»

Überdurchschnittlich gut schneiden auch die verdichteten neuen Wohnsiedlungen ab, wie sie Genossen­schaften heute bauen. Der haushälterische Umgang mit dem knappen städtischen Boden zahlt sich also aus. Wenn Banken taumeln und plötzlich keine ­Steuern mehr zahlen wie nach der Finanzkrise, stabilisieren die vielen zugezogenen normalen Steuerzahler den städtischen Haushalt.

Für die Stadt kein gutes Geschäft hingegen ist die zehn Millionen Franken teure 600-Quadratmeter-Loft im «Mobimo-Tower» in Zürich West: Es handelt sich um die Zweitwohnung eines ehemaligen Hedgefonds-Managers und heutigen UBS-Verwaltungsrats, der seine Villa in Bäch, Kanton Schwyz, behält – wo er auch weiterhin seine Einkommenssteuer zahlt.

Während Basel seine Wohnungs­politik erst jetzt überdenkt, hat Zürich bereits 2003 auch einen Fokus auf zahlbare Wohnungen für Junge und für Alte gelegt. Bereits seit den 1920er-Jahren baut eine städtische Stiftung günstige Wohnungen für «kinderreiche Familien»; seit den 1980er-Jahren kauft eine weitere Stiftung auf dem Markt Wohn- und Gewerberaum auf und entzieht ihn so der Spekulation.

Zudem hat die Stadt nie ganz aufgehört, selber Wohnungen zu bauen und vor allem Genossenschaften Land im Baurecht abzugeben – was in Basel erst seit Kurzem wieder zum Thema wird.

In jüngster Zeit ist Zürich sogar dazu übergegangen, private Investoren zu zwingen, auf ihrem Land einen ­Anteil gemeinnütziger Wohnungen zu bauen. Doch um bis 2050 auf einen Drittel gemeinnützige Mietwohnungen zu kommen, braucht es weit mehr. Badran fordert deshalb eine neue Stiftung, die mit 80 Millionen Franken Eigenkapital ausgestattet offensiv Bauland kaufen und an gemeinnützige Wohnbauträger im Baurecht abgeben soll.

Auflagen für Genossenschaften

Die Stadtregierung dagegen schlägt eine Stiftung vor, die gezielt Wohnraum für die «unteren Einkommensschichten» bereitstellt: «Denn sie sind am stärksten unter Druck», sagt Martinovits. Von einer solchen «Ghetto-Stiftung» hält Badran gar nichts: «Wir brauchen Durchmischung und eine Lösung auch für den Mittelstand.» Aus­serdem will die Stadtregierung nur noch an jene Genossenschaften Land im Baurecht abgeben, die Vorschriften zur Mindestbelegung kennen: Eine Wohnung darf höchstens ein Zimmer mehr haben als Personen darin wohnen. Sind die Kinder ausgezogen, muss ein Paar die Familienwohnung wieder freigeben.

Plötzlich ein Herz für Arme

Wären sämtliche Zürcher Wohnungen nach dieser Regel voll belegt, hätte die Stadt rund 50 000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr. Ausserdem will die Stadt bei den Genossenschaften noch nicht näher definierte «Richtlinien bezüglich Einkommens- und Vermögenssituation» durchsetzen. «So können mehr Haushalte profitieren, die darauf angewiesen sind», betont Martinovits.

Die Bürgerlichen und Hauseigentümer freuts: Sie haben schon immer gefordert, dass Genossenschaften reserviert werden für «jene, die es wirklich nötig haben», wie sich Leiser ausdrückt. Von einer «Frechheit» spricht hingegen Badran: «Genossenschaften sind private Akteure, denen der Staat abgesehen von den kantonal subventionierten Wohnungen keine Vorschriften zu machen hat.» Eine Linke, die für den Mittelstand spricht, und Bürger­liche, die Bedürftige bevorzugen wollen – und dazwischen eine lavierende Stadtregierung: Das ist Zürcher Wohnungspolitik im Jahr 2012.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.03.12

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