Die Rückkehr des gesunden Menschenverstands

Die Krise 
hat auch Positives. Sie schärft das 
«kritische» Misstrauen.
Die Krise 
hat auch Positives. Sie schärft das 
«kritische» Misstrauen.

Schwarze Nacht, eine abgelegene Landstrasse. Zwei dunkle Gestalten stehen am Strassenrand. Ein Auto bremst an der Kreuzung. Die Fahrerin blinkt, zögert. Anhalten oder weiterfahren? Nach wenigen Sekunden fällt die Entscheidung: Die Fahrerin nimmt die beiden Wanderer mit, die den letzten Bus verpasst haben. Warum vertrauen wir Wildfremden?

Vertrauen ist die Fähigkeit, sich auf Beziehungen einzulassen, obwohl Risiken bestehen. Vertrauen ist der Kitt der Gesellschaft. Ohne Vertrauen geht nichts, weder zwischen Menschen noch im Wirtschaftsleben. «Es ist ein fundamentales Sich-Verlassen auf die Gutmütigkeit der Welt», sagt Jan Engelmann, Neuroökonom an der Uni Zürich. Ein Kind muss sich darauf verlassen, dass seine Eltern für es sorgen, ein Käufer darauf, dass er für sein Geld eine Gegenleistung bekommt. «Ohne Vertrauen wären wir wahrscheinlich vor Angst gelähmt», sagt Engelmann. Derzeit kommt uns der Verlust des Vertrauens teuer zu stehen. Die Indus­triestaaten setzen Steuergelder in Milliardenhöhe ein, um das Bankensystem vor dem Absturz zu bewahren. Alles bloss, um das Vertrauen in die ­Finanzwelt wiederherzustellen. Die ­Finanzkrise, meinen Ökonomen einmütig, sei eine Krise des Vertrauens. «Wir erleben einen massiven, ansteckenden Vertrauensverlust», glaubt etwa Yale-Ökonom Robert Shiller, der die Finanz­krise vorhergesagt hat.Doch auch das Umgekehrte könnte zutreffen, sind einige leise Stimmen zu hören. Zu viel Vertrauen sei ebenfalls riskant – in der Wirtschaft wie beim Autostopp. Wird jetzt endlich das blinde Vertrauen in die Märkte auf ein vernünftiges Mass gestutzt? Die globalisierte Gesellschaft ist unüberschaubar geworden, was seltsame Blüten treibt. Übergrosses Vertrauen, etwa in Populisten oder im Umgang mit Daten im Internet, paart sich mit extremem Misstrauen etwa gegen Institutionen: Über 90 Prozent der Deutschen, ergab eine Umfrage, misstrauen der Politik. In diesem Spannungsfeld floriert die Vertrauensforschung. An der Uni Zürich schlossen sich 2010 Hirnforscher, Ökonomen und Geisteswissenschaftler zum Projekt «Vertrauen verstehen» zusammen, um die Grenzen des Vertrauens und Misstrauens auszuloten. Jan Engelmann und seine Kollegen untersuchen etwa mit Geldspielexperimenten und dem Gehirn­scanner, wie Vertrauensentscheide ablaufen. Spieler A erhält ein Kapital von 24 Franken, von dem er Spieler B beliebig viel anvertrauen darf. Diesen Betrag verdreifachen die Spielleiter; dann entscheidet B, ob und wie viel er seinem Gönner abgibt.

Hormon senkt Angst vor Risiken

Würden Menschen nach kalter Vernunft entscheiden, gäben sie nie etwas ab. In der Realität überweisen aber fast alle Spieler einen Betrag, und zwei Drittel geben etwas zurück. «Wir stellen fest, dass Menschen einander prinzipiell vertrauen», sagt Engelmann. Im Gehirn weckt unter anderem eine Art soziales Schmiermittel das Vertrauen: das Kuschelhormon Oxytocin, das beim Orgasmus, bei stillenden Müttern und bei Streicheleinheiten ausgeschüttet wird. Sprüht man es Testpersonen vor dem Vertrauensspiel in die Nase, sind sie deutlich vertrauensbereiter, ergab ein früheres Zürcher Experiment. Überraschenderweise ist Vertrauen eng mit der Angst verknüpft. Das zeigen Gehirnbilder von Probanden: Nach Oxytocingaben war das Angstzentrum im Gehirn deutlich weniger aktiv. «Oxytocin nimmt die Angst vor sozialen Risiken und lässt uns Kontakte als angenehm erfahren», so das Fazit des Psychologen Markus Heinrichs von der Universität Freiburg im Breisgau.

Die Hirnforschung zeigt, wie untrennbar Vertrauen und Risiko verknüpft sind. Soziologen definieren ­Vertrauen als die zuversichtliche Er­war­tung, dass andere einem wohlgesinnt sind. «Wenn wir einer Bank Geld geben, erwarten wir Zinsen – nicht, dass die Bank zusammenbricht», sagt Georg Kohler, Professor für Politische Philosophie an der Uni Zürich. Das Risiko dieser Vorschussleistung liegt darin, dass man nie wissen kann, ob die Erwartung erfüllt wird. Im Alltag urteilen wir anhand unserer Er­fahrung, einer Art Basiswissen der Welt. Kompetenz, Wohlwollen und Integrität gelten als zentrale Kriterien beim Vertrauenscheck. Zuverlässigkeit und ­eingehaltene Versprechen lassen das Vertrauen aufblühen, Willkür und Wortbruch ersticken es. Das nennt man gesunden Menschenverstand. Dieses Alltagswissen versagt in unserer komplizierten Welt häufig. Niemand weiss, ob sein Essen hygienisch hergestellt, das Flugzeug fachgerecht gewartet wurde oder ob ein Anlage­papier seriös ist. «Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto grösser ist der Vertrauensbedarf», sagt der Theologe Simon Peng-Keller, Koordinator des Zürcher Vertrauen-Projekts. Statt selbst zu wissen, müssen wir uns auf Fach­leute wie Flugzeugingenieure oder Lebensmittelfabrikanten verlassen. Doch wem können wir trauen? Das führt zur bizarren Situation, dass ­Experten von Experten überwacht ­werden müssen, sei es von Konsumentenschützern, von Lebensmittel­inspek­teuren oder Nichtregie­rungs­organi­sa­tionen. «Das Vertrauen ver­la­gert sich von einer Instanz auf die nächste», sagt Peng-Keller. Das gilt nicht zuletzt für die Finanzwelt, wo kaum jemand mehr durchblickt. «Es gibt hier einen Mangel an Wissen, der den Vertrauensbedarf erhöht», sagt Barbara Grimpe, Wirtschaftssoziologin an der Uni Zürich, die ebenfalls am Vertrauen-Projekt beteiligt ist. Wie ein Gebraucht­wagenhändler ist der Banker im Vor­teil: Er kennt die Macken seines Produkts besser als der Käufer. Kein Wunder, werden nun angesichts gigantischer Fehlspekulationen strengere Kontrollen gefordert.

Vertrauen braucht Misstrauen

Das sei nur der halbe Weg, glauben manche Soziologen. Kontrolle stehe nicht im Gegensatz zum Vertrauen, sondern bestätige dieses. Oder einfacher: Vertrauen braucht Misstrauen. Letzteres aber hatte in den letzten Jahren wenig Konjunktur. «Es gab nach 1990 eine Phase des übertriebenen Vertrauens», sagt Politphilosoph Kohler. «Es herrschte die aberwitzige Idee vor, man könne den Markt so exakt berechnen wie Planetenbewegungen.»

An der aktuellen Misere sind vermutlich weniger einzelne kriminelle Betrüger und Spekulanten schuld als ein übermässiges Systemvertrauen. «Unter Bankern herrscht eine Zahlen- und Modellkultur», sagt Grimpe. «Die Öffentlichkeit hat diese Kultur relativ unkritisch akzeptiert.» Die jetzt ge­forderten Regulierungsmassnahmen nennt sie «berechtigtes Misstrauen».Menschen liessen sich gerne verführen und jeder Verkäufer sei auch ein Verführer, sagt Kohler. «Die Frage ist, ob ich meiner eigenen Illusionsbereitschaft und der Verlockung des schnellen Geldes widerstehen kann.» So ­gesehen, könnte der jetzige Vertrauenszusammenbruch auch sein Gutes haben: Der blinde Glauben an die freie Marktwirtschaft und an illusorische Renditen wird korrigiert. Denn die beste Waffe gegen falsches Vertrauen sei der gesunde Menschenverstand, sagt Kohler. «Der wird durch die schlechten Erfahrungen derzeit gerade wieder angekurbelt.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28/10/11

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