Diesen jungen Mann, mit dem ich eine Busfahrt geteilt hatte, gab es plötzlich nicht mehr

Den Gaza-Krieg 2014 erlebte ich vor Ort. Raketen zischten über meinen Kopf bis ich an den See Genezareth evakuiert wurde. Mit diesem Text habe ich versucht, die Geschehnisse von damals zu ordnen. In einigen Minuten wird es 6 Uhr sein; die grauen, abgerundeten Steine des Seeufers sind noch kühl von der Nacht und das Wasser […]

Palestinians perform Friday prayers outside a mosque which witnesses said was destroyed by an Israel air strike during an Israeli offensive, in Gaza City in this August 15, 2014 file photo. July 8th marks the one-year anniversary of the war between Israel and Hamas in Gaza. The 50-day conflict began after Israel said it was determined to put an end to constant rocket-fire from Gaza, launching an intense air and ground assault to do so. It was the third major conflict between Israel and Hamas militants since the Islamist group seized control of Gaza in 2007. The fighting killed more than 2,100 Palestinians, most of them civilians, as well as 73 Israelis, most of them soldiers. More than 100,000 buildings in Gaza were left damaged or destroyed. None has yet been rebuilt. REUTERS/Mohammed Salem

Den Gaza-Krieg 2014 erlebte ich vor Ort. Raketen zischten über meinen Kopf bis ich an den See Genezareth evakuiert wurde. Mit diesem Text habe ich versucht, die Geschehnisse von damals zu ordnen.

In einigen Minuten wird es 6 Uhr sein; die grauen, abgerundeten Steine des Seeufers sind noch kühl von der Nacht und das Wasser empfängt uns wie eine zweite Haut, die bestimmt und doch zärtlich die sonnenverbrannten Körper, die von Zweifeln und Fragen versengten Gedanken umschliesst und heilt.

Die Minuten im See sind die einzigen des Tages, in denen es mir erlaubt ist, Atem zu holen und die Augen zu schliessen, ohne dass sich Bilder und Geräusche, Gesichter und Namen, die ich nicht kenne, auf die Innenseite meiner Lider projizieren. Das Wasser wäscht sie ab, mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen lassen wir uns auf dem See treiben und die Wellen diktieren sanft einen neuen Rhythmus, der die Ausläufer der Gedanken und Albträume der Nacht allmählich aus dem Takt bringt und schliesslich verschwinden lässt.

Die Tage vergingen alle gleich.

Am Morgen die Betreuten wecken, ihnen helfen bei den alltäglichen Verrichtungen; das Frühstück vorbereiten, schliesslich essen; den Abwasch besorgen, Badehosen und Sonnencreme verteilen; danach gingen alle zusammen für einige Stunden an den See, wir machten Spiele und Musik und plantschten im Wasser. Das Mittagessen wurde im Speisesaal des Kibbuz eingenommen und die ungewohnten Speisen – wir waren an Getreide, Gemüse und Salat gewöhnt – schlugen auf den Magen. Danach die Mittagspause. Am Nachmittag Spiele, Geschichten und Theater; danach Duschen für die Betreuten und Vorbereiten des Abendessens. Nach dem Essen der Sonnenuntergang, einige Lieder, Nachtruhe für die Betreuten und bald auch für uns, den erschöpften Betreuern.

Das bläuliche Licht im Zimmer, der Geruch nach nassen Badesachen und sandigen Tüchern, nach Kosmetikartikeln, nach dem alten Holzschrank in der Ecke. Wir teilten uns ein Zimmer zu dritt: Efrat und ich, die Betreuer, L., die Betreute. Bald schlief L., und Efrat und ich lagen wach – die Mittagshitze draussen und unsere Erschöpfung erlaubten es uns nicht, unsere Pause an einem anderen Ort als im Bett zu verbringen.

Palestinian children look out through a hole covered with a blanket in their family house, that witnesses said was damaged by Israeli shelling during a 50-day war last summer, in the east of Gaza City January 7, 2015.

Im Rückblick begreife ich, welch‘ grosses Glück es war, dass wir stets auch die Verantwortung für unsere Betreuten trugen – nicht bloss dank der Ablenkung und der Beschäftigung, die wir dadurch hatten, sondern schlicht und einfach auch durch deren Blick auf die Welt und die Geschehnisse. Viele der Betreuten verstanden, dass Krieg herrschte; für sie war es nicht das erste Mal, dass sie in den Bunker mussten.

Dennoch wurde im Bunker gesungen und getanzt, die Evakuierung in den Kibbuz – noch dazu am See Genezareth! – wurde als Ferien gefeiert und als wir eine ganze Nacht im Bunker verbringen mussten und ich R., eine Frau mit Down–Syndrom, trösten wollte, meinte sie erstaunt: «Weshalb? Eine Pyjama–Party ist doch cool!»

Im Rückblick verstehe ich nun auch, dass in diesem Sinne manchmal die Rollen von Betreuer und Betreuten vertauscht wurden.

Sobald die Betreuten nicht mehr dabei waren, veränderte sich auch das Erlebnis im Bunker. Dasjenige, welches mir als das Intensivste in Erinnerung blieb, fand statt, als wir auf der Wiese sassen und der Bombardierung Gazas zusahen. Die Sirenen begannen zu heulen und wir rannten zum Bunker; kaum hatten wir die Tür geschlossen, hörten wir, wie die von der Hamas abgefeuerte Rakete über uns hinwegzischte – dieses Zischen war ohrenbetäubend, ebenso der Einschlag. Die Erschütterung war so stark, dass wir uns sicher waren, dass die Rakete direkt neben dem Bunker eingeschlagen haben musste; schlussendlich war die Einschlagstelle 500 Meter von uns entfernt.



Light streaks and smoke trails are seen as rockets are launched from Gaza towards Israel in this July 23, 2014 file photo. Israel disputed on June 22, 2015 the findings of a U.N. report that it may have committed war crimes in the 2014 Gaza conflict, saying its forces acted

Eine aus dem Gaza-Streifen abgefeuerte Rakete schlug nur 500 Meter von uns entfernt ein. (Bild: AMIR COHEN)

Zwei Erkenntnisse sind mir geblieben von den Situationen, in denen wir angegriffen wurden. Die erste ist, dass ich ziemlich schnell rennen kann, wenn es sein muss. Ja, das ist etwas scherzhaft gemeint. An der zweiten Erkenntnis aber ist nichts Scherzhaftes.

Ich musste einsehen, dass Ideale und Wertvorstellungen, die ich stets hochgehalten und – so gut es eben ging – gelebt habe, in solchen Ausnahmesituationen sehr schnell und leicht in sich zusammenfallen können wie ein Kartenhaus. Ich vertrat zum Beispiel stets die hier sehr vereinfacht formulierte Ansicht, dass alle Menschen gleich viel wert sind – das bedeutet auch und in erster Linie, dass es alle Menschen verdient haben, zu leben.

Eines haben mich die Sirenen gelernt: Ich kann ziemlich schnell rennen.

Das Schlimmste während der Minuten im Bunker war die Anonymität dieser Situation. Da sitzen irgendwo im Gazastreifen ein paar Terroristen, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen – durch ihre Raketen nehmen sie in Kauf, dass ich dabei sterben könnte, vielmehr: Sie beabsichtigen meinen Tod. Ohne zu wissen, wer ich bin, was meine Pläne und Wünsche sind. Gleiches gilt natürlich für die Situation, in der israelische Flieger Bomben auf Gaza werfen.

Um zum Kartenhaus zurückzukehren: Als ich einige Tage darauf in den Nachrichten hörte, dass einige Terroristen der Hamas getötet worden waren, war mein erster Gedanke: Geschieht ihnen recht! Es war auch der zweite Gedanke, er ging nicht weg. Und dass ich so etwas aufrichtig denken und meinen kann – das hätte ich mir nicht vorstellen können.

Bis ich begriff, dass ich die Nachrichten, welche mir die App der «Jerusalem Post» schickte, deaktivieren kann, vergingen einige Tage. In diesen Tagen leuchtete mir fast jedes Mal, wenn ich das iPhone zur Hand nahm, der Namen und das Alter eines israelischen Soldaten entgegen, der gefallen war. Mit der auf diesen Telefonen üblichen Bewegung wischte ich ihn weg, um das Gerät weiter bedienen zu können; weg aus meinem Blickfeld, aber nicht aus meinen Gedanken. Auch das Wissen, dass sich hinter jedem Namen, jedem Jahrgang und jedem Foto der gefallenen Soldaten – die meistens in meinem Alter waren – auch Dutzende, Hunderte getöteter palästinensischer Zivilisten ohne Namen und ohne Gesicht verbargen, war nicht beiseitezuschieben.

Etwa vier Wochen später – ich war bereits wieder in der Schweiz – sollten all die Soldaten und Zivilsten, welche in diesem Krieg ihr Leben verloren, ein Gesicht bekommen, das ich kannte – und mit ihm eine Stimme, ein Lachen, eine Persönlichkeit.

«Der Tod geschieht ihnen recht!» – Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich so etwas aufrichtig denken kann.

Einige Tage vor Kriegsausbruch fuhr ich mit dem Bus von Jerusalem zurück nach Beer Sheva. Neben mir sass ein Soldat der israelischen Armee, der aus Kalifornien kam und in Israel seinen Militärdienst absolvierte, ungefähr in meinem Alter und zu Beginn der Busfahrt längere Zeit am Telefon.

Es war unmöglich, ihm nicht zuzuhören, und so erfuhr ich von seinem Alltag in der Armee und wie sehr er sich auf die bevorstehenden Ferien und das Wiedersehen mit der Familie freute; schliesslich kam seine Freundin ans Telefon und er beteuerte ihr seine Liebe und wie sehr er sie vermisst hatte. Nachdem das Telefonat beendet war, unterhielten wir uns bis zur Ankunft in Beer Sheva; es wurde viel gelacht dabei.

Etwa einen Monat später stiess ich auf der Website der «Jerusalem Post» auf sein Foto – zusammen mit seiner Todesmeldung. Er und vier weitere Soldaten waren in Gaza in ihrem Fahrzeug in die Luft gesprengt worden.

Dieser grosse, etwas schüchterne, junge Mann mit den schönen Gesichtszügen, hat seine Eltern nicht wiedergesehen, ist nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, hat seine so sehr vermisste Freundin nicht mehr in die Arme schliessen können.

Diesen jungen Mann, mit dem ich eine Busfahrt geteilt hatte, gab es plötzlich nicht mehr.

All das Entsetzen, die Wut und die Traurigkeit über diesen Krieg – über jeden Krieg – hatten nun ein Gesicht bekommen, eine Stimme und einen Namen: Max Steinberg.

Manche Leute fingen an mit mir zu diskutieren, als sie von dieser Geschichte erfuhren: Aber er hat vielleicht auch einen Palästinenser getötet, er war auf der israelischen und somit der «bösen» Seite und, und, und. Ja, vielleicht ist das wahr – vielleicht hat er Menschen getötet.

Diesen jungen Mann, mit dem ich eine Busfahrt geteilt hatte, gab es plötzlich nicht mehr.

Und doch war er letztendlich ein junger Mann mit einer Zukunft vor sich und Plänen, mit einer Familie und einer Freundin und einem Zuhause, das er verlassen hatte, um etwas in seinen Augen Sinnvolles, Notwendiges zu tun – als Jude und vielleicht im Ausland lebender Israeli seinem Heimatland einen Teil seiner Jugend zu opfern und in den dreijährigen Militärdienst zu gehen. Ob man das sinnvoll findet oder nicht – das ist jedem selbst überlassen.

Tatsache ist dies: Dass jeder Mensch – unabhängig davon, ob es ein Palästinenser oder ein Israeli war –, der im letzten oder einem vorherigen Krieg gestorben ist, ein Toter zuviel war. Denn schlussendlich bleibt ein Mensch ein Mensch, mit Familie und Freunden, mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auf die er – ein ihm nicht abzusprechendes Recht hat – egal, woher er kommt.

Die tödlichsten Waffen im Krieg sind nicht Raketen und Bomben – es sind Anonymität und Gleichgültigkeit.

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