Buchreview zu „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ von Manfred Spitzer (2012) // Laurin Schwob
Medien beeinflussen den Alltag, diesen Fakt kann heutzutage kaum jemand bestreiten. Während körperliche Veränderungen mess-, sicht- und spürbar sind, bleiben allfällige Effekte auf die Psyche weitgehend verschwommen. Die zunehmende Verwachsung von Mensch und Maschine, die mediale Omnipräsenz und die damit immer evidentere Abhängigkeit von Medien haben in den letzten Jahren eine rege Diskussion in der Gesellschaft entstehen lassen. Das grosse Mysterium: Wird sich die Intelligenz verändern? Spekuliert wird in jede erdenkliche Richtung. Ob Dystopie oder Utopie, es lässt sich zu jedem Zukunftsmodell eine Theorie finden. Die damit verbundenen Unsicherheiten sind gross. Die Hoffnung endlich einen Anhaltspunkt zur Orientierung zu finden auch. Der deutsche Neuropsychologe Manfred Spitzer thematisiert in seinem 2012 erschienenen Bestseller „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ die Auswirkungen der Mediennutzung auf das Gehirn.
Laurin Schwob, Mewi-Student der Universität Basel, hat das Buch gelesen und zieht Bilanz.
Wovon handelt das Buch? Die Botschaft der digitalen Revolution scheint vergleichbar zu sein mit dem trojanischen Pferd, da unter der Oberfläche der neuen Medien Gefahren verborgen sind, die niemand ahnt. Mit Studien unterfüttert, versucht der besorgte Vater und Autor Spitzer aufzuzeigen, wie medial stimulierte Grauzellen verkümmern und uns zu dementen Nulldenkern degradieren. Selbst dem Postulat der neuen Medien verfallen, ruft Spitzer in populärkultureller Manier nach der Sofortbremse, in der Hoffnung die nächste Generation gegen den digitalen Virus zu immunisieren. Eine Aufforderung zur Quarantäne der analogen Medien als Rettung der Zukunft.
Was heisst das konkret? Spitzer beschreibt eine Kultur, in welcher alle an digitaler Demenz leiden und keiner es merkt. Eine Diagnose der neuroplastischen und gesellschaftlichen Nebenwirkungen der neuen Medien: geistiger und körperlicher Verfall, sozialer Abstieg, Vereinsamung, Stress, Depression, früher Tod, Gewalt.
Gibt es eine Hauptaussage? „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe meiner Gedanken an“, soll bereits Kaiser Marc Aurel erkannt haben. Gehirnforscher haben verifiziert, dass sich unsere Gehirnstruktur dynamisch wie eine Dauerbaustelle verändert und sich den jeweiligen Anforderungen anpasst. Programmatisch entspricht dies der Formel von Nicholas Carr: Deep Thinking = Deep Reading. Eine oberflächliche Konsultation, die dem Multitasking inhärent ist, lässt keine Reflexion zur tiefen Verarbeitung eines Inhalts zu. Die daraus resultierenden Folgen für die neuronale Struktur sind laut Spitzer fatal. Vor allem für das Kind, dessen Gehirn noch in Entwicklung und dadurch formbarer ist, bedeutet dies die Rückbildung von Synapsen.
Ein Beispiel? Spitzer zitiert eine Studie über Londoner Taxifahrer, welche auf Grund ihrer erlernten Orientierungsfähigkeit während der Ausbildung einen grossen Hippocampus entwickelt haben. Technologie hingegen externalisiert Gehirnaktivität. Unser hirneigenes GPS bleibt durch die stets zuvorkommende Frauenstimme, welche angenehm den Weg diktiert, ungenutzt – und verkümmert, wie der Anschlusssatz erklärt. Um Smart-Mensch zu bleiben, müsste das Gehirn ähnlich wie ein Muskel trainiert und im “aktiven Be-greifen“ der Umwelt auf Trab gehalten werden.
Gibt es Probleme mit dem Buch? Die Erkenntnis des Buches: Zu allen Befürchtungen betreffend Medien lassen sich auch irgendwo Studien finden, die sie bestätigen. „Wissenschaftlich erwiesen“ ist Spitzers beliebteste Floskel, wobei er gegenteilige Erkenntnisse ignoriert und die wissenschaftlichen Zweifel nie auf die wissenschaftlichen Studien, die ihm passen, anwendet. Die Leseerfahrung war ein Wechselspiel im Zweiseitentakt: immer wieder werden interessante Assoziationen, die sich aus inspirierenden Passagen ergeben, von Spitzers platten Alarmismus diskreditiert. Dabei gibt er sich wie Messias gegen den Rest der Welt, welcher den ahnungslosen Usern bemitleidend und vorwurfsvoll zugleich die Leviten liest, um sie zu retten. Indem er den Medien konsequent quasi-toxikologische Eigenschaften zuschreibt, knüpft er an vorhandene Ängste an und dramatisiert sogar Banalitäten. Im Ton akademischer Überlegenheit strickt er aus Formulierungen wie „Anfixen an der Fresssucht“, womit er Nahrungsmittelwerbung Schauen meint, oder „(…)dann schenken sie ihm doch eine Spielkonsole! Sie leisten damit zugleich einen Beitrag zu mehr Gewalt in der realen Welt“ ein sehr löchriges Netz zwischen Wissenschaft und Alltagsfloskeln. Das Resultat: Immer wenn der Durchschnittsuser zum digitalen Gerät greift, nagt das schlechte Gewissen. Nicht gerade hilfreich.
Was wäre wünschenswert gewesen? Das Buch ist vieles: Sammelwerk von Studien, Lebensratgeber, digitales Testament, Unterhaltungsroman, Tagebuch, politisches Manifest, Verschwörungstheorie, aber keine Bedienungsanleitung. Erhofft man sich eine Medientheorie, welche Perspektiven der Zukunft aufweist, wird man enttäuscht. Hilfreich wäre zum Beispiel eine Strategie zur adäquaten Erziehung für das digitale Kind, anstatt Medien stur mit „Lernverhinderungsmaschinen“, Multitasking mit dem Anlernen einer Aufmerksamkeitsstörung oder Spielkonsolen als Geräte, welche zu mehr Gewalt, sozialer Inkompetenz und schlechten Noten führen, gleichzusetzen.
Gibt es trotzdem Gründe nach diesem Buch im Regal zu greifen? Subtrahiert man einige Ausrufezeichen, findet sich eine Menge an Wissensfutter über Gehirn, Lernen und Medien. Seine berechtigte Botschaft lautet lapidar ausgedrückt: Was wirkt, hat Nebenwirkungen, also aufgepasst. Das Werk als Ganzes scheitert trotzdem, an seiner „überSpitzerten“ Form.