Warum steht die Zeit nicht öfter still? Das Buch «Die Zeitlupe» von Till Brockmann bietet entschleunigten Lesestoff für Cinéphile. Brockmann hilft Ihnen über die Tage, wo die Kinos mal geschlossen sind, und die Zeit langsamer wird. Oder ist sie nur um Sie herum schneller geworden?
Zeitlupe – Die Anatomie eines filmischen Stilmittels
Wenn die Zeit um uns still steht, sind das meist Momente, an die wir uns später erinnern werden. Grund genug, einem Stilmittel im Film mal auf den Grund zu gehen – der Zeitlupe. Mit ihr zeigt uns Film nicht nur, wie uns die Zeit davonrennt. In Till Brockmanns Buch «Die Zeitlupe» können Sie jetzt der Sache auf den Grund der Gründe gehen.
Als Mitglied der Auswahlkommission der «Semaine de la Critique» und «Duisburger Filmwochen» sieht Till Brockmann fast rund um die Uhr Filme. Wer sich mit ihm auf die Abenteuerreise durch das Reich der Zeitlupe begeben will, sollte also etwas Zeit mitbringen (und vielleicht eine Lupe für die Fussnoten).
In welchem Zeitbegriff leben wir?
Wäre das Leben mehr wie im Film, so müssten wir vier Uhren am Handgelenk tragen: Eine, um die Fabelzeit zu messen – jenen Abschnitt, der Zeugung, Geburt und den Tod der Tochter umfasst. Die Sujetzeit würde die zweite Uhr anzeigen, in der die Tochter sich ab 11.2.2009 verliebt und und verheiratet. Die Zeit der Aktion entspräche unserer realen Erfahrung, die uns sagt, wie viel Zeit die Tochter etwa braucht, um von Bettingen an die Rittergasse zu kommen. Die Projektionszeit entspräche dann der Zeit, die wir im Kino verbringen (ohne Werbung), um im Nachhinein die Geschehnisse auf der Leinwand noch einmal zu sehen.
Wir erfahren in Till Brockmanns «Zeitlupe» nicht nur viel über die Wahrnehmung von Leben. Brockmann liebt an Filmen, was wir im Leben oft vermissen: Dass es uns vor Augen führt, wie unsere Augen uns führen. Und mehr.
Erleben, erfahren, erahnen, erhören oder nur sehen? Unter der Lupe der Zeit
Wer mit Brockmann die wissenschaftlichen Erörterungen durchpflügen mag, wird schöne Entdeckungen machen. Zum Beispiel altbekannte wie die: Dass unser Sehvermögen erstaunlich träge ist. Dass deshalb des nachts der bewegte Lichtpunkt als Strich auf unserer Netzhaut erscheint. Dass das aber das nichts anderes bedeutet, als, dass wir erst wissen werden, wie wir wirklich sehen, wenn wir wissen, wie das Hirn das Geschaute verarbeitet.
Die Leserin wird aber auch auf einen reichen Schatz von stilistischen Analysebeispielen stossen. Brockmann fächert anhand der Zeitlupe eine umfassende Stilgeschichte des Films auf. Er geht dabei jedem Aspekt nach, den die Zeitlupe zur Stilgeschichte des Films beiträgt: Montage, Narration, Kameratechnik, Einbettung in den Erzählfluss, erweiterte narrative Struktur – dem Vergnügen der Detailverliebten ist keine Grenze gesetzt.
Aber auch an ganz einfache Seh-Erfahrungen wird man erinnert: Etwa an jenes Gefühl von Zeit unter der Lupe, das wir haben, wenn wir mit einem Teleskop hinaus in die Sterne gucken, wo für die Zeit bekanntlich irgendwie anderes Seh-Gesetze gelten.
Die Entschleuinigung als Sehhilfe
Langsamkeit hat auch im Alltag seine Bedeutung: Langsamkeit setzt sich immer gegen eine Geschwindigkeit ab. Die Langsamkeit einer Bewegung unterstützt auch im Alltag deren Bedeutung: Prinzen schreiten gemessenen Schrittes zur Krönung. Selten sehen wir einen Brautvater seine Brau im Eilschritt zum Altar führen. Brockmann führt hierzu unzählige Filmbeispiele an, die die Verlangsamung als Bedeutungshilfe nutzen.
Sichtbar wird aber durch Zeitlupe nicht nur eine narrative Struktur, sondern auch eine narrative Haltung: So haben wir uns schon fast daran gewöhnt, dass in der Darstellung von Gewalt die erhöhte Langsamkeit zur Distanzierung genutzt wir. Eine Kugel, die extrem langsam einen Raum durchquert, bietet fast schon einen hübschen Anblick im Verhältnis zu der Gewalt, die sie ausübt.
Viele Vorgänge werden in der Zeitlupe erst für unser Auge sichtbar. Selbst die Regung eines Schauspielers kann erst durch die in der Montage eingesetzte Zeitlupe lesbarer werden. Scorsese hat Sequenzen mit Robert DeNiro in einer Verlangsamung montiert, um seine schauspielerischen Finessen dem Auge sichtbarer zu machen. Antonioni hat in «Zabriskie Point» die Explosion durch Zeitlupe zu mehr als einer Eruption der Schönheit gemacht.
Die Entdeckung der Zeit durch die Lupe
Andere Fragestellung können da ebenso verblüffen: Wann etwa wir eine Extremzeitlupe noch als Bewegung wahrgenommen? Ist Extremzeitlupe denn schon Stillstand? Als 1996 der schottische Videokünstler Douglas Gordon in der Manier des Komponisten John Cage Hitchcocks «Psycho» in einen 24-Stunden Film zerdehnte, provozierte er viele Fragen der Wahrnehmung. Sehen wir noch Bewegung, wenn sie in 16’300 Standbilder zerdehnt wird? Brockmann nimmt die Frage auf – folgenreich, und spannend.
Tatsächlich fasst Brockmann den aktuellen Forschungsstand reich zusammen. Das Buch ist, für Filmwissenschaftler ein Muss, für Kinogängerinnen eine genussreiche Sehhilfe, für Cinéphile ein Handbuch. Man muss ja nicht jeden Film kennen, von dem die Rede ist. Manchmal reicht es auch, Herleitungen nachvollziehen zu können. Wer über Zeitlupe mitreden will, muss in Zukunft nach dem Brockmann greifen.
Die Zukunft der Zeit unter der Lupe
Brockmann reiht die Phänomene der Zeitlupe in den Wissenstand der zeitgenössischen Filmbetrachtung ein. Dennoch sei zu seinem ultimativen Wissenstand hier hinzugefügt, was erst nach der Drucklegung seines Buches die Wissenschaft verblüffte: Den beiden Forschern Ramesh Raskar und Andreas Velten gelang es 2013, mit einer Apparatur, jene 2,5 Nanosekunden in 200 Milliarden Bildern pro Sekunde festzuhalten, die eine Gewehrkugel braucht, um eine Wasserflasche zu durchwandern. Damit haben die beiden Physik-Professoren sogar der Lichtgeschwindigkeit ein Schnippchen geschlagen!
2,5 Nanosekunden im Film – ein ganzes Jahr!
Hier sei den Verantwortlichen vom Schweizer Fernsehen jetzt schon die Anschaffung einer derartigen Kamera ans Herz gelegt. Mit der dannzumal möglichen Auflösung von 600 Milliarden Bilder pro Sekunde, könnte ein eventueller Torschuss Shakiris an der Weltmeisterschaft in Brasilien auf ein paar Jahrzehnte verlängert werden. Ein beim Abschuss gezeugtes Kind könnte dann über die Wiederholung in Zeitlupe neben seinen Eltern noch mitjubeln, wenn es sein Studium abgeschlossen, selber Kinder gezeugt und schon ein Enkelkind in den Armen hielte …
Ach, wie flüchtig ist des Menschen Ankunft in der Ewigkeit der Zeit!
Brockmann leitet in einem Kapitel über die technischen Seiten der Zeitlupe deren Erscheinungen auch aus den technischen Möglichkeiten ab. Da können wir jetzt schon gespannt sein, was die Apparatur von Raskar/Velten können wird, wenn sie am Ziel ihrer Forschungen angelangt sind: Die Kamera mit der 600 Milliarden-Bilder pro Sekunden- Auflösung wurde entwickelt, um die Frage zu klären, ob es gelingen könnte, eine Kamera «ums Eck schauen zu lassen».
Eine geradezu furchterregende Handykameraperspektive… wenn sie dem Kind Ihres Nachbarn in die Hände gerät!
Till Brockmann «Die Zeitlupe – Anatomie eines filmischen Stilmittels» ist im Herbst 2013 im Schüren Verlag in Marburg erschienen.