Die irakische Regierung verliert die Kontrolle über immer grössere Teile des Landes. Die Dschihadisten der Gruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS) eroberten weitere Orte im Norden und rückten am Donnerstag bis in das Umland der Hauptstadt Bagdad vor.
Nach übereinstimmenden Berichten beider Seiten nahmen die schwarzgekleideten Kämpfer mehrere Orte nördlich der Hauptstadt ein und eroberten erste Bezirke von Udhaim, 90 Kilometer von Bagdad entfernt. Die meisten Soldaten in der Kleinstadt verliessen ihre Stellungen und zogen sich zurück.
«Wir warten auf Verstärkung», sagte ein Polizist, der in Udhaim ausharrte. Die Islamisten könnten die Hauptstrasse nach Norden blockieren. «Wir sind entschlossen, ihnen nicht die Kontrolle zu überlassen.»
«Entscheidungsschlacht in Bagdad»
Am Mittwoch hatten die ISIS-Kämpfer die nördliche Millionenmetropole Mossul eingenommen, die zweitgrösste Stadt des Landes. Dort waren innert weniger Stunden rund 500’000 Menschen vor den Extremisten geflohen.
Nach Medien-Informationen erbeutete die Gruppe ausserdem 500 Milliarden irakische Dinar (382 Millionen Franken) in der Zentralbank. Auch schweres Kriegsgerät und Helikopter soll in die Hände der ISIS gefallen sein.
Seither stösst die Gruppe immer weiter nach Süden vor. Unterwegs wurde auch Tikrit eingenommen, die Heimatstadt des von den USA gestürzten sunnitischen Machthabers Saddam Hussein. Dort und in anderen Orten setzten die Islamisten Militärräte ein.
«Sie sind nicht wegen Blut oder Rache kommen. Sie wollen Reformen umsetzen und Gerechtigkeit walten lassen», sagte ein Stammesvertreter über die Islamisten. Der Anführer der Gruppe habe immer wieder erklärt, das eigentliche Ziel der Offensive sei Bagdad: «’Dort kommt es zur Entscheidungsschlacht.’»
In einer auf YouTube verbreiteten Videobotschaft rief ISIS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani seine Kämpfer auf, weiter bis nach Bagdad vorzudringen, wo «es eine Rechnung zu begleichen» gebe. Auch die schiitischen Städte Nadschaf und Kerbela werde ISIS attackieren, drohte Al-Adnani und rief zum Durchhalten auf.
Ausland beunruhigt
Russland bezeichnete die Offensive der Dschihadisten als «zutiefst beunruhigend». «Die Ereignisse im Irak verdeutlichen den vollkommenen Misserfolg des Abenteuers, an dem sich die USA und Grossbritannien beteiligt haben», sagte Aussenminister Sergej Lawrow am Donnerstag der Nachrichtenagentur Iter-Tass.
Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier sagte der «Bild»-Zeitung, die Lage sei «alarmierend», weil die Kämpfe «die durch den Syrienkrieg aus der Balance geratene Region noch weiter in Gewalt und Chaos zu stürzen drohen». Auch das Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und das Internationale Komittee vom Roten Kreuz (IKRK) zeigten sich beunruhigt und verurteilten die Gewalttaten im Irak.
Vorwürfe an Maliki
Der Vorstoss der sunnitischen ISIS zeigt den tiefen Konflikt zwischen den islamischen Gruppen im Irak, der das Land schon während der US-Besatzungszeit an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Viele Sunniten werfen dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki und der Armee vor, hauptsächlich die Interessen der Schiiten zu vertreten.
Eigentlich sollte das Parlament am Donnerstag über einen Antrag al-Malikis abstimmen, den Ausnahmezustand auszurufen. Allerdings fanden sich nicht genug Abgeordnete für eine Sitzung ein. Diese wurde insbesondere von sunnitischen und kurdischen Volksvertretern boykottiert, die Maliki keine zusätzlichen Befugnisse geben wollen.
Die Kurden verwalten im Norden des Landes ein autonomes Gebiet, das von den Wirren und der Gewalt im Irak nach dem US-Einmarsch 2003 verschont geblieben ist. Ein Grund dafür sind ihre gut organisierten Peschmerga-Milizen. Ein Sprecher dieser Einheit sagte am Donnerstag, man habe nach dem Rückzug der irakischen Armee aus Kirkuk dort die Kontrolle übernommen.