Das Achtelfinal-Duell mit Argentinien kann für die Schweizer Auswahl ein WM-Segen oder das Ende der Träume sein. Ein Spiel ohne Grenzen in São Paulo?
Die WM in Brasilien ist und bleibt unberechenbar. Der Titelhalter Spanien ging früh unter. Holland spielt sich in der 94. Minute in die Viertelfinals. Der Gastgeber vermeidet die Sporttragödie dank Neymar und Julio Cesar erst im Penaltyschiessen. Costa Rica schaltet England, Italien und Griechenland aus. Blamagen, Märchen, Geschichten. Die WM der Extreme. Und noch immer mittendrin die Schweiz.
«Wir setzen uns selber keine Grenzen», sagte Ottmar Hitzfeld, der Trainer. «Das ist für alle die Chance ihres Lebens», findet Fabian Schär, das Verteidiger-Talent. «Wir können in der Schweiz eine gewaltige Euphorie auslösen, nein sogar weltweit», glaubt Admir Mehmedi, der unbeschwerte Aufsteiger des Teams. «Für alle geht ein Traum in Erfüllung, wir spielen gegen eine der grössten Mannschaften des Weltfussballs, gegen das Argentinien von Messi», denkt Gökhan Inler, der Captain.
Hinter der SFV-Auswahl liegen spezielle Wochen. In Gruppenphase stoppte sie mit Ecuador (2:1) und Honduras (3:0) zwei Latino-Vertreter, stürzte aber dazwischen gegen Frankreich (2:5) ab. Die Mannschaft erholte sich erstaunlich gut von ihrem Kollaps. Symptome blieben keine zurück. Die teils überzogene Kritik von aussen spaltete die Gruppe nicht. Im Gegenteil: Sie generierte unter Druck wieder Energie, lehnte sich auf, demonstrierte Wettkampfhärte.
Im schwierigen Vorprogramm trat die Schweizer Equipe nie nur mit einer Mimik auf, das Gesicht variierte, der Kontrast konnte beträchtlich sein – mal glücklich, mal ratlos, mal verärgert, mal euphorisch, mal furchtlos. In dieser Auswahl steckt viel Leben und Temperament, Charakter und Passion. Sie ist an guten Tagen in der Lage, auch einen Giganten des Weltfussballs vor unlösbare Probleme zu stellen.
Keine übertriebenen Ansagen
Aus der Optik der Gauchos betrachtet, seit 1993 und dem Erfolg bei der Copa America ohne wichtigen Titelgewinn, ist das Duell mit der Schweiz allenfalls ein unangenehmer Pflichttermin, für die Schweiz hingegen ist die Affiche einmalig. Es ist ihre Chance, sich im WM-Geschichtsbuch zu verewigen. In einer Knock-out-Runde einen unbestritten Grossen zu schlagen, ist höher zu taxieren als alle prestigeträchtigen Coups gegen Spanien (1:0/2010), Frankreich (0:0/2006) oder Rumänien (4:1/1994) der letzten 50 Jahre.
In einer einzigen Partie könnte das Team der drei talentiertesten Generationen der SFV-Geschichte in eine Dimension vorstossen, die nur schwer zu fassen ist – oder um es in Behramis Worten zu sagen: «Wir können etwas Gewaltiges auslösen, etwas das den Schweizer Fussball prägen kann, etwas, das niemand mehr vergessen wird.»
Mit übertriebenen Ansagen halten sich die Schweizer zurück. Sie machen sich zwar nicht kleiner als nötig, aber sie kennen ihre WM-Vergangenheit und jene der Südamerikaner. Jedem ist klar, dass der vierfache Weltfussballer Lionel Messi im Normalfall in den Achtelfinals (noch) nicht zu stoppen ist. Und doch ist zu spüren, dass jeder in der Delegation den ersten Sieg überhaupt gegen den zweifachen Weltmeister für möglich hält – trotz Messi, trotz der diskussionslosen Rollenverteilung.
Die Fokussierung des Trainers
Der Faktor Hitzfeld ist nicht zu unterschätzen. Vor seiner taktischen Eingabe hängt viel ab. Er hat bislang kaum Fehler gemacht. Jede weitere Niederlage ist mit dem Ende seiner grandiosen Karriere gleichzusetzen. Daran denkt er nicht. Der 65-Jährige will noch ein paar Tage fortfahren, er hat Aufregendes im Sinn, er will ein letztes Mal Grenzen verschieben. Dazu ist der Deutsche noch einmal tief in seine spezielle Welt abgetaucht.
Peter Gilliéron, Verbands-Präsident, Bewunderer und Weggefährte des Selektionärs, spürte in den letzten Tagen vor dem womöglich wichtigsten Spiel seit Dekaden, wie Hitzfelds Fokussierung «eine neue Dimension» erreichte: «Dieser Zustand der totalen Konzentration ist imposant.» Der SFV-Chef ist beeindruckt – von Hitzfeld, aber auch von der Entschlossenheit der Spieler, von «ihrer grossen Solidarität».
Fünf Jahre nach der U17 bei der WM-Endrunde in Nigeria könnte eine nächste Schweizer Equipe durchstarten – im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Damals registrierten nur Insider, dass Granit Xhaka und Co. Brasilien mit Neymar früh eliminierten. Sollten die Gold-Boys von damals nun Messi ausschalten, würden sie zu Figuren der WM-Historie aufsteigen – und sich einen Status erspielen, der kaum zu fassen wäre.
Support von 200 Millionen
Vorerst blickt erst ein Teil der Sportwelt (im eigenen Interesse) gebannt auf die Schweizer – die über 200 Millionen Brasilianer, die sich nichts mehr wünschen als eine Blamage der «Albiceleste». Die WM-Gastgeber haben «O Suiço» zumindest temporär in ihr Herz geschlossen. Ihnen käme ein frühes Scheitern des grossen Rivalen Argentinien äusserst gelegen.
Die Sympathie beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Als Neymar den entscheidenden Penalty verwertete, jubelte Gökhan Inler im Beach-Club-Haus der SFV-Herberge in Porto Seguro schon fast enthusiastisch der Seleção zu: «Yes! Brasilien muss ganz einfach in diesem Turnier drin bleiben.» So wie sein eigenes Team.