Eine Prise Tristesse, 27. Juni 2002

Die Schweizer Grenze naht, die Region Franche-Comté zeigt sich von der schmucklosen Seite, der Alltag der Leute scheint sehr unaufgeregt. 

Bald wird sich auch dieser Wanderweg in Nichts auflösen.

Die Schweizer Grenze naht, die Region Franche-Comté zeigt sich von der schmucklosen Seite, der Alltag der Leute scheint sehr unaufgeregt.

Villersexel – ein kleines Zentrum inmitten einer Gegend, die kaum grosse Bedeutung hat in diesem weiten Land, eine Gegend, in der die Bauern wie Generationen vor ihnen das Getreide anbauen, Vieh halten, kaum Neues erfinden wollen. In der die Handwerker seit Generationen die Häuser bauen, die Maschinen flicken, früher die Karren, heute die Mähdrescher, Traktoren – vor allem die Autos. Und seit Peugeot in unmittelbarer Nähe Autos baut, seit Jahrzehnten also, hat sich eine Industrie in den Zentren aufgebaut, die sich weit herum auswirkt. Eine unscheinbare Gegend, dünn besiedelt, durchsetzt mit grossen Wäldern, schmucklos – Villersexel ist eines dieser ländlichen Zentren mittendrin, es ist leidlich herausgeputzt, eine dezent geschminkte, leicht verblühte Schönheit vom Lande, die nicht weiss, ob sie sich aufs Alter freuen oder der Jugend nachtrauern soll. All die Läden sind hier, die es so braucht, damit sich eine Fahrt ins Zentrum lohnt, Handwerker haben sich niedergelassen, unten am Fluss lockt gar eine Kajak-Schule und irgendwo weist ein Wegweiser zu einem Zeltplatz.

Eine Wanderkarte, die über Villersexel hinausführt, finde ich in der lokalen Papeterie nicht, muss mich mit einem groben Massstab begnügen. Und es scheint, als ob es auf dem Weg ostwärts keine grossen Alternativen zur Überlandstrasse gebe. Ich will nun zügig vorankommen, so nahe an der Schweizer Grenze locken mich keine Umwege mehr. Bis Villargent und gar bis St. Ferjeux trotte ich dem linken Strassenrand entlang, meist auf einem kleinen Kiesstreifen, den die Strassenbauer freigelassen haben. Nur einmal weist mich die Karte auf eine Nebenstrasse hin. Ein grosser Wanderweg, der ungefähr in die gewünschte Richtung führt, ist eingezeichnet, der Zugang aber nicht auffindbar. Wahrscheinlich verwachsen.

Hier wie anderswo in diesem Land: Sofern ein Weg nicht von Landmaschinen benutzt werden kann, spriessen Brombeeren und Gräser verholzen. Manchmal sind es nur noch Geländeeinschnitte, die auf frühere Pfade deuten.

Etwas grau, etwas diesig

Vellechevreux: Kinder trollen sich zur Busstation, Mütter begleiten sie hin, latschen in nachlässiger Aufmachung und durchgetretenen Sandalen durchs Dorf, schauen erstaunt dem Wanderer zu, der seine Karte sucht, die er unterwegs verloren hat. Auch das noch. Seit Tagen zum ersten Mal verdecken Wolken die Sonne, die Hitze ist erträglicher, aber das sonnenlose, diesige Licht lässt die Häuser noch grauer, einfallsloser, trister erscheinen. Und wieder auf die Landstrasse, Lastwagen donnern vorüber. Die schönste Musik aus dem Walkman kann nicht übertönen, dass diese Laster bedrohlich nah und stinkend an mir vorbeifahren.

Bei Secenas versuche ich, eine Abkürzung einzuschlagen, die im Idealfall bis nach Héricourt führen könnte, sofern meiner noch verbliebenen Karte mit nun allerdings sehr, sehr grobem Massstab zu trauen ist. Noch grauer und einfallsloser die Häuser hier, ein junger Mann kommt aus der Mairie, schaut krampfhaft weg, als er einen wandernden Rucksack vorbeiziehen sieht. Seltsame Pferde weiden, schwarz-weiss gescheckt, sehen aus, als seien sie in Kuhhäute geschlüpft. Und erstmals eine wirklich starke Steigung, der Jura nähert sich, steige hoch zu einem Weiler, der Malval heisst – und das hätte eigentlich eine Warnung sein müssen.

Verletzter Marder

Am Strassenrand kauert ein Marder. Am helllichten Tag. Eine Frau in blauer Küchenschürze mit Dackel beobachtet das Tier besorgt. Ist es tot? fragt sie. Ich werfe einen Stein. Nein, er bewegt sich. Sieht unheimlich aus, so ein ungewohntes Tier auf dem Kiesbett neben der Fahrbahn. Offenbar angefahren, verletzt. Und wenn es nun in Todesangst sich auf alles stürzt, was sich bewegt. Habe keine Lust auf Starrkrampf und solche Spritzen, umgehe das verletzte Tier, das länglich dahinkauernd die Welt beobachtet. Der Dackel der Frau stürzt sich auf den Marder, eine Hetzjagd beginnt, ich trolle mich von dannen.

Ein schöner Wald, eine beachtliche Steigung, ich bin wahrscheinlich erstmals wieder auf einer Höhe wie seit England nie mehr. Die Strasse ist breit, ich ziehe voran, denke, dass ich um sechs Uhr abends in Héricourt sein werde. Und der Weg endet wie wohl die meisten Feld- und Waldwege in Frankreich. Irgendwann geht er in lockereren Kies über, der Kies verschwindet, Gras wächst, ein Waldweg mit Spuren von Traktoren und anderen schweren Gefährten, Wassertümpel in den Spuren, immer stärker verwachsen, der Pfad wird zur Ahnung, löst sich auf und irgendwann bleibt nichts übrig, als dem Gefühl zu vertrauen, eine Richtung einzuhalten und auf Geräusche von Autos zu lauschen, um irgendwann wieder eine Strasse zu erreichen. Und prompt habe ich mich verlaufen. Ich verlasse den Wald, gehe quer über die Felder bis zur erstbesten Strasse.

Sie führt nach Saulnot, das – wäre ich auf der geteerten Landstrasse weitergegangen, längst hinter mir gelassen hätte. Ein Möbelschreiner am Dorfeingang, eine Boulangerie, ein Hotel – «Chez Babette». Der Eingang schwer zu finden, er isthinter dem Haus, auf einen grossen Lastwagen-Parkplatz. Ein Trucker-Hotel wieder – wie damals in Moffat. Aber ein ehemaliges.

Der Wirt sitzt am runden Tisch, referiert und rätselt, was das deutsche Wort «Heim» wohl bedeute, ausser dass es ein Familienname sei. Kann ihm und seinen Mitratern helfen und sie finden es seltsam, dass die Firma, welche das Haus nebenan renoviere, ausgerechnet «Heim» heisse. Eine Elsässer Firma. Dann reden sie über einen eifersüchtigen Ex-Ehemann, der seine Geschiedene und ihren neuen Liebhaber umgebracht habe.

Kalender, Jahrgang 1999

Die Wirtin, wohl um die sechzig, sagt, sie vermieteten keine Zimmer mehr. Sie sucht mir die Nummer eines Hotels in Héricourt heraus. Der Wirt gibt ihr im Vorbeigehen einen Klaps auf den Hintern, ihre weissen Oberarme wabbeln. Ein Mann an der Theke kratzt an seinen Schürfwunden, ein anderer streichelt seine Tätowierungen. Manchmal reden sie miteinander. Der Wirt macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, kippt Kaffeesatz in einen Kübel. Ein Kalender, Jahrgang 1999, hängt am Türrahmen zur Küche, die eine Hälfte ragt in die Türöffnung hinein. Er wird schon etwa drei Jahre so da hängen.

Es hat nur ein Hotel in Héricourt. Mein Zimmer hat einen Fernseher, ich schalte ihn ein und sehe die Schweizer Tagesschau. Charles Clerc moderiert die Nachrichten – wie mir das fremd und doch vertraut vorkommt! Die Grenze ist nah.

(Héricourt, 27. Juni 2002)

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