Einsame Spitze

Ein kleiner Laden an der Gerbergasse zeigt sich immun gegen das rundum grassierende Zügelfieber.

Im wahrsten Sinn des Wortes unzählige Zierbänder bieten Selvi Yaz und ihre Praktikantin Kübra (Bild) im Spitzen-Geschäft Caraco an. (Bild: Stefan Bohrer)

Ein kleiner Laden an der Gerbergasse zeigt sich immun gegen das rundum grassierende Zügelfieber.

Derzeit passiert so einiges an der Gerbergasse, neben der Freien Stras­se eine der beliebtesten Einkaufsmeilen in der Basler Innenstadt: Diverse Geschäfte sind in den letzten Wochen und Monaten weggezogen, um anderen Platz zu machen. Wo eine Kleiderboutique war, wird im Spätsommer die chinesische Fastfood-Kette Mr. Wong eröffnen; Bodyshop wird von Beldona abgelöst. Schon seit längerer Zeit eine Baustelle ist das Haus Nummer 54 neben der «Walliserkanne», und wo die Buchhandlung Olymp & Hades drin war, soll ein Dienstleistungsunternehmen für Hörgeräte einziehen.

Bei all dieser Betriebsamkeit fragt man sich unwillkürlich, wie lange es den Laden in Nummer 77 mit den gehäkelten und gestickten Bordüren im Schaufenster noch geben wird. Am besten fragt man wohl direkt im Laden nach.

Es ist ein Eintritt in eine längst vergangen geglaubte Zeit: Hunderte, nein, unzählige Zierbänder in allen Farben, Breiten, Materialien und Macharten bedecken die ganze linksseitige Wand. Entlang der rechten Seite reiht sich mehrstöckig auf Regalen Schachtel an Schachtel voller weiterer nach Farben sortierter Bordüren. Schmucklose Neonröhren beleuchten den schlauchartigen Laden, der bis zu einem weiteren Schaufenster an der Falknerstrasse reicht. Eine Treppe im Eingangsbereich führt in den oberen Stock.

Von der Lehre zur Leitung

Es ist grad niemand im Laden. Aber eine Türklingel hat den Eintritt von Kundschaft angekündigt, Schritte nähern sich der Treppe. Wer nun eine ältere Dame vom Typ Handarbeitslehrerin erwartet hat, liegt falsch. Es kommt eine junge Frau. 23 Jahre alt sei sie, sagt sie lächelnd, und seit letztem Sommer die Geschäftsführerin. Als Selvi Yaz stellt sie sich vor. Und sie erzählt eine Geschichte. Eine, die wie das Geschäft einer vergangenen Zeit angehört.

Gegründet wurde das Spitzen-Geschäft namens «Caraco» 1914 von Isaac Caraco, einem aus Konstantinopel eingewanderten jüdischen Kaufmann, knapp fünfzig Jahre später übernahm sein Sohn Robert das inzwischen weit über die Stadt hinaus bekannte Geschäft. Dessen Sohn wiederum, René Caraco, erbte von seinem Vater zwar das Haus, als Psychiater eignete er sich jedoch nicht gerade als Spitzen-Verkäufer.

Dass das Haus nicht verkauft und der Laden weitergeführt werden sollte, stand für die Familie jedoch ausser Frage. Eine Mitarbeiterin wurde deshalb als Geschäftsführerin eingesetzt, und als diese letztes Jahr in Pension ging, übertrug René Caraco die Leitung der jungen Selvi Yaz, die damals noch in der Lehre war, aber kurz vor dem Abschluss stand.

Er habe mit Frau Yaz jemanden gefunden, sagt Caraco, der das Geschäft seines Grossvaters mit grossem Engagement weiterführe. Es sei ihm schon klar, dass das in der heutigen Zeit nicht einfach sei. «Textilarbeiten sind ja bei den jungen Leuten nicht mehr so im Trend», so Caraco. Aber Selvi Yaz traut er zu, dass sie das Familienunternehmen noch eine ganze Weile am Leben erhalten kann.

Raritäten und Entdeckungen

Das habe sie auch fest vor, sagt die junge Frau, die übrigens keinesfalls fotografiert werden möchte. Viel lieber zeigt sie, was sie zu verkaufen hat. Es ist eine überwältigende Auswahl. Allein, was es hier an Spitzen gibt: Schmale und breite, weisse und bunte, gehäkelte und gestickte, hand- und maschinell gefertigte. Nebst neuen – auch elastischen – gibt es viele alte Spitzen, die nicht oder kaum mehr hergestellt werden.

Yaz legt ein zartes eierschalenfarbenes Band auf dem Korpus aus: «Eine etwa 40 bis 50 Jahre alte Baumwolltüllspitze», schätzt sie. So etwas gebe es nicht mehr, heute werde Tüll aus Nylon oder Polyester hergestellt. Ein paar wenige Meter sind es noch, dann ist Schluss. Aber sie mache immer wieder Entdeckungen im Laden, sagt Yaz.

So etwa das hauchdünne Band mit aufgereihten echten Swarovski-Steinchen. Sie legt es sich um das Handgelenk. «Mit einem kleinen Stück davon kann man sich zum Beispiel ein Armband machen.» Bei 24 Franken pro Meter ein günstiges Schmuckstück. «Und bei den Jungen momentan ziemlich angesagt», betont sie. Aber auch Spitze erlebt eben wieder ein Revival. Von daher sollte man meinen, dass dieser Laden vermehrt auch wieder junge Frauen anzieht.

Aber die Mehrheit ihrer Kundschaft, sagt Selvi Yaz, seien schon ältere Damen. Solche, die den Laden schon lange kennen und wissen, dass sie dort praktisch alles finden, was sie zur Verzierung ihrer Tisch- und Bettwäsche brauchen. Die Jungen, weiss sie inzwischen, bräuchten Hilfe, damit sie sich in dem riesigen Angebot nicht verlören. «Sich einfach umschauen, wie sie das sonst gewohnt sind, reicht nicht.»

Auswahl per Handy

Wie viele Zierbänder im Laden sind, kann Yaz nicht sagen. Es sei unmöglich, sie alle zu zählen. Deshalb gibt es ihr Sortiment auch nicht auf einer Website. Sie weiss sich trotzdem zu helfen, wenn eine Kundin von aus­serhalb eine Bordüre bestellen will. Diese schicke ihr via Handy ein Bild des zu verzierenden Stücks und sie wiederum sende ihr auf dieselbe Art ein paar Vorschläge.

Übrigens: Eine der beiden Töchter von René Caraco, die Künstlerin Françoise Caraco, wird im Herbst 2013 mit einer multimedialen Installation im Ladengeschäft an die Familiengeschichte ihres Grossvaters erinnern. Für dieses Projekt wurde ihr 2012 vom Kanton Basel-Stadt ein Beitrag des Kunstkredits zugesprochen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13

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