Eliezer mit der Gitarre und dem Durchblick

Mit und anhand wunderbarer Aussicht auf die Klagemauer und den Felsendom erklärt mir der Jude Eliezer, weshalb er jeden Tag damit beschäftigt ist, Muslime als seine Brüder zu betrachten. An einem Freitagnachmittag, wenige Stunden vor Beginn des Schabbat, war ich in der Altstadt unterwegs. Beim Abstieg vom Jüdischen Viertel zum Platz, an dessen Ende sich […]

Eliezer mit seiner Gitarre und der nicht sichtbaren Weisheit

Mit und anhand wunderbarer Aussicht auf die Klagemauer und den Felsendom erklärt mir der Jude Eliezer, weshalb er jeden Tag damit beschäftigt ist, Muslime als seine Brüder zu betrachten.

An einem Freitagnachmittag, wenige Stunden vor Beginn des Schabbat, war ich in der Altstadt unterwegs. Beim Abstieg vom Jüdischen Viertel zum Platz, an dessen Ende sich die Klagemauer erhebt, und hinter der die goldene Kuppel des islamischen Felsendoms zu sehen ist, traf ich auf Eliezer. Dieser spielte Schabbatlieder auf seiner Gitarre, brummte die Worte vor sich hin und stapfte mit seinem rechten Fuss den Takt.

Ich hielt inne, zum einen wegen der schönen Lieder, zum anderen wegen der atemberaubenden Aussicht, welche Jerusalem in einem Blick zusammenzufassen schien – die Schönheit der Stadt, ihre Geschichtsträchtigkeit, ihre Vielfältigkeit und eben auch das darinliegende Konfliktpotenzial.

Ein grosser Streitpunkt liegt unter vielem anderem darin, dass die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom auf den Überresten des zweiten jüdischen und 70 n. Chr. durch die Römer zerstörten Tempels errichtet wurden; es gibt Gruppierungen, die es sich zum gefährlichen Ziel gesetzt haben, den Tempel an gleicher Stelle wieder aufzubauen. Was dies für den ohnehin schwellenden Konflikt bedeutete, kann man sich mit etwas Fantasie ausmalen. Doch zurück zu Eliezer.

«Wir sind Brüder»

Als ich mich an ihn wandte, um ihm einige Fragen für diesen Blogbeitrag zu stellen, erklärte ich wie immer zuerst, weshalb ich diesen Blog überhaupt führe. Ich erzählte also und gelangte an denjenigen Punkt in meinem Monolog, an dem ich die Überzeugung äusserte, dass es nicht nur Hass und Gewalt zwischen Israelis und Arabern, Juden und Muslimen gibt – auch wenn dieser Eindruck durch die gängige Berichterstattung leicht entstehen kann. Ich hatte noch nicht fertiggesprochen, als Eliezer mich freundlich, aber bestimmt unterbrach und mir den folgenden Vortrag hielt.

«Natürlich hassen nicht alle Juden die Muslime und umgekehrt. Es wäre auch nicht richtig, denn wir stammen vom selben Stamm ab, unser beider Vater ist Abraham. Das jüdische und das muslimische Volk sind wie Brüder – zwei verschiedene Brüder, schwarz und weiss. Natürlich ist es eine Provokation für mich als gläubigen Juden, dass ein islamischer Dom und eine Moschee auf den Überresten unseres Tempels, unseres Heiligtums gebaut wurden.»

Religion vor Politik

«Doch diese Gotteshäuser sind nun einmal da; nicht erbaut von den Muslimen, welche derzeit in Palästina, Jerusalem, irgendwo auf der Welt leben. Dass es mich ärgert und traurig stimmt, dass auf unserem Tempel gebaut wurde, darf sich nicht in meiner Gesinnung meinen muslimischen Brüdern gegenüber äussern. Wer verurteilt und hasst, wer Gewalt und Schlechtes in die Welt setzt, ist des Tempels nicht wert – daran erinnere ich mich selbst immer wieder, jeden Tag. Und ich bin der Überzeugung: Wenn wir Frieden wollen – wirklich Frieden, nicht bloss ein Waffenstillstand, sondern Frieden auch in den Herzen –, so kann dies nicht durch die Politik geschehen, sondern muss von Vertretern des Judentums und des Islams herbeigeführt werden. Die Politik wird uns nie den wahren Frieden bringen, dies ist alleine durch die Religion möglich.»

Hier gestattete Eliezer mir eine Frage, die einzige übrigens: Ob er daran glaube, dass dies in naher Zukunft geschehen könne?

«In naher Zukunft? Ich weiss bloss, dass es nur auf diesem Weg wahren Frieden geben kann – aber ich glaube nicht daran, dass dies jemals geschieht. Das ist traurig, nicht wahr? Das kannst du in deiner Zeitung schreiben, mehr habe ich nicht zu sagen.»

Und er griff wieder zur Gitarre und kehrte zu seinen Schabbat-Melodien zurück, die plötzlich viel melancholischer und sehnsüchtiger klangen als vor seinen Worten.

Dennoch gibt es ein leises Gefühl der Hoffnung, Menschen zu treffen, die tief in ihrer Religion und ihrer Kultur verwurzelt sind und trotz Provokationen und Verletzungen täglich damit ringen, diejenigen, welche ihnen diese Provokationen und Verletzungen zufügen, als Brüder zu betrachten.

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Vor der Mauer ist hinter der Mauer – Rahel Schlagbauer erzählt in ihrem Blog «Mauerblumen» Geschichten aus Israel und Palästina, um die Mauern aus Vorurteilen und Verallgemeinerungen einzureissen.

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