«Es ist eine innere Welt, die man sieht»

Werner Spies ist Co-Kurator der Max-Ernst-Retrospektive in der Fondation Beyeler. Im Interview spricht er über seine Freundschaft zu Künstlern, über Max Ernsts Jungfrauenkomplex, über Irritationen und Inspirationen. Von Valentin Kimstedt Werner Spies und der FälschungsskandalDer Ruf von Werner Spies als Max-Ernst-Kenner und -Vermittler hat in den letzten Jahren stark gelitten. Sieben bis dahin unbekannte Bilder […]

Werner Spies ist Co-Kurator der Max-Ernst-Retrospektive in der Fondation Beyeler. Im Interview spricht er über seine Freundschaft zu Künstlern, über Max Ernsts Jungfrauenkomplex, über Irritationen und Inspirationen. Von Valentin Kimstedt

Werner Spies und der Fälschungsskandal
Der Ruf von Werner Spies als Max-Ernst-Kenner und -Vermittler hat in den letzten Jahren stark gelitten. Sieben bis dahin unbekannte Bilder hat er für Originale von Ernst gehalten, die sich jedoch alle als Fälschungen von Wolfgang Beltracchi herausstellten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits für Millionenpreise verkauft worden, wobei Werner Spies Kommissionszahlungen von insgesamt 400’000 Euro bezog.Dies sei ein Fehler gewesen, räumt er in seinen 2012 erschienenen Memoiren ein, da es «zu Unrecht den Eindruck» erwecken könne, er habe die Fälschungen vorsätzlich für Ori­gi­nale gehalten.Der Hauptvorwurf lautete jedoch, Spies habe die Werke nicht mit der gebotenen Gründlichkeit geprüft. Daher verurteilte ein Pariser ­Gericht ihn und den französischen Galeristen Jacques de La Béraudière zu einer Schaden­ersatzzahlung von über 600’000 Euro an den Sammler Louis Reijtenbagh – kurz nachdem dieses Gespräch geführt wurde.Bereits in seinen Memoiren äus­sert sich Spies zu der Affäre: «Würde ich die Arbeiten heute betrachten, fände ich nach wie vor keinen Hinweis, der Zweifel an der Echtheit bei mir aufkommen lassen würde. (…) Dass die als Reaktion auf meinen Irrtum erfolgten öffentlichen Beschuldigungen mich nachhaltig und tief schmerzen – ja der schwerste Einbruch in meinem Leben sind –, kann das Glück meines Lebens nicht zerstören. Es verleiht ihm das ‹Ach!›, ohne das kein Leben gelebt werden kann.»Auf die Rückfrage, was das Urteil für ihn bedeutet, antwortete Spies in einem Mail sehr allgemein: «Es ist das Todesurteil für jedes Unterfangen, einen Œuvre­katalog zu erstellen. In den USA haben die Fondation Warhol und der Nachlass Lichtenstein bereits damit begonnen, keine Bestätigungen mehr für Werke auszustellen.»

«Als Max Ernst krank war, habe ich ihm ständig vorgelesen, Hölderlin, Novalis, auch Hans Arp.»

Werner Spies, 76, sitzt auf einer Bank inmitten von Schlüsselwerken des Malers und Bildhauers Max Ernst. Um ihn herum erstrecken sich die riesigen Räume der Fondation Beyeler, in denen man wandern muss, um von Wand zu Wand zu kommen. Verloren scheint er nicht auf seiner Bank. Er sitzt da, wo er am meisten zu Hause ist. Aber ein wenig zerbrechlich wirkt er schon. Eben hat er einen Vortrag gehalten und inzwischen schon sechs Interviews hinter sich. Ob er denn noch könne? «Naja, wenn Sie mich so freundlich fragen …»

Noch mehr fragt sich, wie man in den gegebenen Minuten mit Werner Spies sprechen soll. Seine enge Freundschaft zu Max Ernst nennt er die «Begegnung meines Lebens», er hat mit dem Künstler zusammengearbeitet, gibt den umfassenden Werkkatalog heraus und hat seine Gedanken über Kunst und Künstler an vielen Stellen veröffentlicht. Darüber wollen wir reden – zum Fälschungsskandal und der Kritik an seiner Person hat er sich schon in seinen Memoiren ausführlich geäussert (siehe Box, Seite 39).

Herr Spies, Sie sind kein Freund der Frage, was ein Bild bedeutet.

Wir stehen in der Regel vor einem Bild und fragen: Was bedeutet das? Im Fall von Max Ernst dreht das Bild die Frage um und richtet die Frage an den Frager: Was bedeutest du? Um ihn vielleicht auch auf die Absurdität seiner Frage aufmerksam zu machen.

Was passiert, wenn Sie vor einem Max-Ernst-Bild stehen?

Naja, nicht, dass uns das Pferd nun plötzlich anwiehert und fragt. Aber wenn wir vor den Bildern stehen und versuchen in sie einzudringen, dann wird uns vieles unklar. Es stellen sich so viele Weichen nach anderen Antworten, dass wir die Gewissheit verlieren.

Welche Gewissheit?

Ich ändere mich in meinem Sehen, ich ändere mich in meiner Vorstellung von der Welt. Die Menschen, die das erste Mal so ein Bild sahen, waren 1923 sicher ebenso verunsichert wie die Menschen, die damals das «Urteil» oder den «Prozess» von Kafka gelesen haben. Es gab bis dahin nichts Vergleichbares in der Kunst.

Funktioniert diese Verunsicherung heute genauso?

Das kann ich nicht beurteilen. Für mich ist das Werk zwar nicht schlüssig, aber so bekanntgeworden, dass ich hier nichts Fremdes mehr sehe. Aber der Besucher wird sehr viel Fremdartigkeit erleben, etwa so, wie wenn er eine Novelle von E.T.A. Hoffmann liest, oder wenn er einen fantastischen Film sieht – Dinge, von denen er keine Ahnung hat.
Max Ernst hat seinen Bildern Titel gegeben, die kleine Geschichten sind oder den Betrachter überhaupt erst auf den Gedanken bringen, dass es sich um einen bestimmten Gegenstand handelt. Er legt Fährten aus.Und falsche Fährten! Ich glaube, er hasste einfach alles, was Sicherheit und Orthodoxie war. Das war auch der Grund, aus dem ihn die Blasphemie interessierte. Das Bild «Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind» konnte er nur malen, weil er als Katholik aufgewachsen war. Blasphemie ist nur möglich in der Reaktion auf etwas, was man früher als Gewissheit genommen hat. Ich weiss nicht, wie das heute ist. Es gibt Leute, die nicht wissen, was eine Maria ist. Für die ist so ein Bild nicht interessant.

Die Techniken, die Ernst erfunden hat, Collage, Frottage …

… er hatte, wie er mir einmal sagte, einen Jungfrauenkomplex. Er konnte nicht mit einem leeren Papier beginnen. Er musste irgendwie diese Reinheit des Papiers zerstören, indem er etwas draufklebte oder einen Klecks draufmachte. Das erinnert an ein Wort von Mallarmé: «Le blanc soucie de notre toile», die weisse Sorge, die entsetzte Sorge vor dem leeren Blatt.

Diese Techniken haben einen pragmatischen Grund.

Inspirativ, ja. Er geht immer von etwas aus, das er interpretieren kann.

Mit diesen Techniken zitiert Ernst nicht nur ein Stück Realität, er nimmt es materiell in sein Bild hinein. Was erzählt diese Geste?

Diese Geste ist entscheidend auch dafür, was wir heute zu tun haben. Keine Energie, kein Wissen, auch keine Empfindung ist unerschöpflich. Wir müssen recyclen, neu zusammensetzen. Das hat er auf magistrale Weise vorgeführt. Deswegen interessiert er auch die jungen Künstler. Jeff Koons ist ganz traurig, dass ich ihm nicht die Genehmigung besorgen konnte, nach einem der Bilder von Max Ernst ein Bild zu malen. Aber ich finde halt auch: Wenn jemand ein Bild von Max Ernst, dass selbst Resultat einer Collage ist, noch zu einer weiteren Collage heranziehen will, dann hat er das Prinzip nicht verstanden. Die Bilder von Max Ernst sind fantastisch, vieles ist sehr fremd … Vieles lässt sich aber auch erklären. Schauen Sie zum Beispiel «Beim ersten klaren Wort» an. Folgen Sie dem Lauf des Fadens, Sie können ein «M» lesen, und dann die zwei Finger, die im Grunde einen weiblichen Unterkörper bilden, ein «x» – «Max». Er hat auch manche Bücher mit «Mx» signiert. Auch Paul Éluard unterzeichnete mit «PL», das Bild ist also eine Hommage an dessen Frau Gala Éluard. Aber ich erzähle Ihnen jetzt nicht alles, was ich geschrieben habe.

Ernst sagte: «Dort wo der Mensch die Geheimnisse der Natur zu überraschen hofft, findet er nur sein eigenes, vom Spiegel zurückgeworfenes Bild.» Malte er die ganze Zeit sich selbst?

Ich glaube wohl, dass ein grosser Teil dieser Bilder Selbstdarstellungen sind. Dass er eigene Zustände und Vorstellungen malte. Es ist keine äussere Welt, sondern eine innere, die man da sieht.

Zwischen all den Genies, die Sie in Paris kennenlernten, haben Sie sich nach eigenen Aussagen «wie ein Wurm» gefühlt. In der Begegnung mit Ernst hat sich dieser Selbstzweifel aufgelöst. Wie hat er das geschafft?

Er hat mich überall hin mitgenommen, hat mich eingeführt. Ich habe ihn mit Beckett zusammengebracht. Ich bin manchmal so etwas wie ein Partner gewesen, habe Textauswahlen für seine Bücher gemacht. Für ihn war auch wichtig, dass er mit mir wieder Deutsch sprechen konnte, nach Jahrzehnten der Entfremdung von Deutschland. Die Liebe zur deutschen Sprache und Poesie ist immens gewesen. Als er krank war, habe ich ihm ständig vorgelesen, Hölderlin, Novalis, auch Hans Arp. Das hat ihm sehr gut getan.

Er hat Sie gleich beim ersten Treffen als Freund begrüsst?

Ja, das kann man so sagen. Im Falle von Picasso war es auch so. Das erste Mal, als ich ihn traf, hat er mich umarmt. Dann haben wir zusammen gearbeitet.

 

«Kein Wissen, keine Empfindung ist unerschöpflich. Wir müssen neu zusammensetzen. Das hat Max Ernst auf magistrale Weise vorgeführt», sagt Werner Spies. Foto: Keystone

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.07.13

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